Blutiges Eis
westlich von Algonquin Bay. Das schimmernde Eis verlieh den vorbeieilenden Telefonmasten, den durchhängenden Kabeln, den scharfen Felskanten einen bizarren Reiz, doch Delormes Gedanken waren die meiste Zeit bei dem Fund im Wald.
Ein Verbrechen aus Leidenschaft? Vielleicht war Craig Simmons als verschmähter Liebhaber endgültig explodiert. Mit ziemlicher Sicherheit gab es in Dr. Cates’ Leben keine weiteren Verdächtigen für diese Art von Verbrechen. Ein Mann sagt, er habe sich daheim das Hockeyspiel angesehen, hat aber keine Zeugen. Nun ja, was will man machen, solange ihm das Gegenteil nicht nachzuweisen ist? Dr. Choquettes Alibi musste noch überprüft werden, aber er stand auf Delormes Liste nicht gerade obenan. Und zwei Leichen, die kurz hintereinander im Wald gefunden werden? Falls sich herausstellte, dass Craig Simmons nicht in Frage kam, dann lag die Vermutung nahe, dass es irgendeine Verbindung zwischen Dr. Cates und dem toten Amerikaner gab. Wieso aber wurde dann der eine den Bären vorgeworfen und die andere nicht?
Jetzt standen ihr erst einmal Dr. Cates’ Eltern bevor. Delorme hatte sie bereits telefonisch benachrichtigt, doch es war unerlässlich, sie persönlich aufzusuchen. Mit den Hinterbliebenen zu reden war gut und gerne das Schlimmste bei Mordsachen und das Einzige, was bei Delorme Sehnsucht nach dem Sonderdezernat aufkommen ließ. Im S.D., wo sie einige große Fälle gelöst hatte, brauchte man wenigstens niemandem zu erzählen, dass seine Tochter tot ist. Man brauchte nicht in einem Zimmer zu stehen und beinahe von ihrem Schmerz erdrückt zu werden.
Und genau das war eine halbe Stunde später der Fall. Aufdem Kaminsims Delorme gegenüber stand ein Foto von Winter Cates’ Abschlussfeier an der Uni, mit einem Lächeln, das Stolz und Freude über den Erfolg zum Ausdruck brachte. Ihre Mutter saß, ein Taschentuch in der Hand, zusammengekauert in einem Sessel in der Ecke – eine rundliche Frau in ihren Sechzigern, aber immer noch mit einem Hauch des pfirsichfarbenen Teints ihrer Tochter auf dem Bild. Ihr Vater, ein kantiger Mann mit weißem Bart und weißem Haar, das er zu einer Franse nach vorne gekämmt hatte, war Professor für englische Literatur an der Laurentian University. Er erinnerte an einen römischen Senator.
»Dieser Craig Simmons«, sagte Professor Cates. »Ich wusste vom ersten Augenblick an, dass er ein Fehler war. Wir beide wussten das. Winter war erst sechzehn, als sie ihn kennen lernte, und er war gut aussehend, athletisch gebaut und in der Footballmannschaft und … all das eben, was einem sechzehnjährigen Mädchen imponiert. Aber jedem Erwachsenen war klar, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er war zu leidenschaftlich. Zu vernarrt. Er hing dauernd wie eine Klette an Winter – buchstäblich. Kaum standen sie da in der Diele, packte er sie wie ein kleiner alter Mann am Ellbogen.«
»Und er hat sie immerzu angestarrt«, sagte Mrs. Cates leise. Ihre Augen waren gerötet, auch wenn sie im Moment nicht weinte. »In einer Art und Weise, die nicht mehr normal war. Er hing an ihren Lippen, wenn sie was sagte, als wäre jedes ihrer Worte eine Sache von Leben und Tod für ihn.«
»Winter war ja noch ein Kind«, sagte Professor Cates. »Sie hat das nicht durchschaut. Vermutlich hat sie einfach gedacht, er wäre superromantisch. Aber mit ein bisschen Lebenserfahrung sieht man, wenn es zur Obsession wird. Traurigerweise scheint das die einzige Form von Liebe zu sein, die man heutzutage noch zur Kenntnis nimmt. Ich meine, in Büchern und Filmen. Songs. Eine stille Liebe ist nicht mehr gefragt. Nein, nein, es muss Sturm und Drang sein.«
Nach Delormes Erfahrung war die Liebe normalerweise Sturm und Drang, aber sie hatte nicht vor, mit Professor Cates darüber zu diskutieren.
»Craig Simmons hat nie jemand anders als sich selbst geliebt«, fuhr er fort. »Er ist wie dieser besessene kleine Mistkerl, der John Lennon erschossen hat. Oder wie all die anderen Irren, die es nicht ertragen können, wenn sie jemand zurückweist, weil sie nie wirklich einen anderen Menschen geliebt haben. Die Gefühle der betreffenden Person haben dabei nichts zu sagen. Meinen Sie, er hat auch nur einmal darüber nachgedacht, ob Winter glücklich ist oder nicht? Hat er nicht. Wir haben letzte Woche mit ihr gesprochen, und sie hat gesagt, dass sie es einfach leid ist mit ihm. Sie hat nicht mehr mit ihm geredet, und sie hat nicht mehr zurückgerufen. Sehen Sie, bei den Craig Simmonses dieser Welt geht es doch
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