Blutinsel
hinauszögern. Wirklich helfen würde sie ihm nicht mehr, hatte der Arzt auf dem Festland gesagt. Dan war auf die Insel zurückgekommen, hatte geschwiegen und für sich beschlossen, die letzten Monate seines Lebens auf der Weide zu genießen. Noch war er weitestgehend von Schmerzen verschont geblieben. Für den Fall, dass es unerträglich für ihn werden sollte, hatte er vorgesorgt. In einem kleinen braunen Fläschchen befand sich genug Cardiotoxin, um dem Leiden ein schnelles Ende zu machen. Zusammen mit den starken Beruhigungsmitteln, die er mit dem Gift auf dem Schwarzmarkt in Boston erworben hatte, ein absolut tödlicher Mix. Er würde einfach einschlafen und nie wieder aufwachen. Dan Boyd war fünfundsechzig. Auch er hatte zunächst bei Seafood gearbeitet, bis die Firma in Konkurs gegangen war, und anschließend eine Anstellung als Schafhirte bei Otis Bratt gefunden. Otis zahlte schlecht, doch zum Leben reichte es, und er war froh, überhaupt einen Job auf der Insel gefunden zu haben. Außerdem war er ein sehr genügsamer Mensch, der nicht viele Ansprüche an das Leben stellte. Er hatte sein Leben gelebt, bei Gott, und er hatte nicht alles in seinem Leben richtig gemacht. Oft hatte er in letzter Zeit daran gedacht, dass ihm sein Schöpfer die Rechung präsentieren würde, wenn er in Kürze vor ihn trat, und dass er ihn vielleicht auffordern würde, Cent um Cent seiner Schuld zu begleichen. Er wusste, was das für ihn bedeutete, doch seit den damaligen Tagen hatte er sein Leben und seine Einstellung geändert. Er war ein besserer Mensch geworden, und er betete zu Gott, den er damals noch verhöhnt hatte. Nachdem es passiert war, hatte er oft mit Chester Glandale über die Angelegenheit gesprochen. Chester hatte es nicht verkraftet, er war fortgegangen und hatte der Insel und den anderen den Rücken gekehrt. Nur einmal noch hatte er von Chester gehört, der damals meinte, dass die Ewigkeit allein nicht reichen würde, um seine Seele reinzuwaschen. Zu Lebzeiten musste man schon etwas dafür tun. Chester, der Vorarbeiter bei Seafood gewesen war und sich angeblich im letzten Jahr von einer Brücke in die eisigen Fluten des Hudsons stürzte. Das passte überhaupt nicht zu Chester. Es war ganz und gar gegen seine Ideale, aber bei Gott, er hatte es getan, hieß es. Wie verzweifelt musste er gewesen sein, dass er alles, an das er glaubte, einfach über Bord warf und sich das Leben nahm.
Das laute und hitzige Bellen von Virginia, der schwarzen American Shepherd-Hündin, riss ihn aus seinen Gedanken. Um ihn herum blökten die Schafe, die unruhig geworden waren, den Kopf hoben und das Grasen eingestellt hatten. Seit dieser unheimliche Killer auf der Insel sein Unwesen trieb, gingen die Schäfer nur noch zu zweit oder in Gruppen hinaus auf die Weide, und die Schrotflinte war zu ihrem ständigen Begleiter geworden. Auch Dan hatte eine Schrotflinte geschultert, doch er dachte nicht daran, sie herabzunehmen.
» Virgi! « , rief er in die Dunkelheit, doch eine Antwort blieb aus. Er spuckte in das feuchte Gras und stieß einen Fluch aus, als er sich seinen Weg durch die dampfenden Leiber aus Fleisch und dichter Wolle bahnte.
» Virgi, wo bist du? « , rief er erneut.
Das Bellen von Virginia wurde lauter und noch ein ganzes Stück hektischer. Hatte sich etwa ein Fuchs vom Shepherd Wood an den Rand der Herde verirrt? Er ging weiter die feuchte Wiese hinauf, wo der Leuchtturm von Hell’s Kitchen Island nur zu erahnen war. Das Bellen des Hundes verklang in einem herzzerreißenden Jaulen. Dan Boyd beschleunigte seinen Schritt. » Virginia, komm hierher! « , rief er durch die Nacht. Sein Atem schmerzte, und der Schweiß rann ihm über die Stirn. Er pfiff über die Lippen, doch von Virginia war nichts mehr zu hören. Aus den Augenwinkeln sah er den Schatten. Erschrocken blieb er stehen. Im letzten Moment versuchte er, das Gewehr von der Schulter zu nehmen, doch schon drang ein Sirren an sein Ohr, etwas Metallisches sauste durch die Luft. Kurz bevor ihn ein schmerzhafter Schlag auf seinen Kopf zu Fall brachte und seine Sinne schwanden, nahm er die gedrungene Gestalt im langen Mantel wahr, die neben ihm stand.
» Belfour « , seufzte er, dann knickten seine Beine ein, und er stürzte in das feuchte und kalte Gras.
Als er wieder zu sich kam, schnitten Fesseln tief in seine Handgelenke, doch noch schlimmer war der Schmerz in seinen Beinen. Es war, als würde er über glühende Kohlen gehen. Der Schein eines Feuers erhellte die
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