Blutinsel
Honeywell setzte sich an den Tisch. Cathy hatte ihre zweite Tasse Kaffee ausgetrunken, als plötzlich die Tür aufflog. Ein großgewachsener und kräftiger Mann betrat das Lokal und trat an den Tresen. Cathy sah, dass der Mann hinkte. Er trug eine Augenklappe, und seine linke Gesichtshälfte war grässlich entstellt. Mia erhob sich und trat an seine Seite. Freundschaftlich klopfte sie dem Mann auf die Schulter. » Hast du alles bekommen, Ty? « , fragte sie.
» Alles bis auf die Stoffbahnen, die werden erst nächste Woche geliefert « , antwortete der Mann mit sonorer Stimme. Schließlich verließen er und Mia den Gastraum.
» Wer ist der Mann? « , wollte Cathy wissen.
» Oh, das ist Mister Ashcroft « , klärte Lydia Coller sie auf. » Er ist unser einziges Verbindungsglied zum Festland und betreibt eine Fähre. «
» Was ist mit seinem Gesicht passiert? «
» Das ist schon Jahre her, er hatte einen schweren Bootsunfall, als er noch für die Seafood arbeitete. Säure hat ihm das Gesicht verätzt, und sein Bein ist seitdem steif, aber er ist ganz in Ordnung. «
Cathy schob ihre Tasse zur Seite. » Gut, meine Damen, ich mache mich dann wieder an die Arbeit. «
Lydia lächelte. » Viel Glück, und lassen Sie sich in dieser Männerwelt nicht unterkriegen, diese Kerle sind es nicht wert. Ich bin sicher, Sie legen dem Mörder das Handwerk. Und eins kann ich Ihnen mit Gewissheit sagen, er ist kein Geist. «
» Was macht Sie da so sicher? « , fragte Cathy.
» Ganz einfach, weil es keine Geister gibt! «
Noch bevor Cathy die Treppe zu den Zimmern erreicht hatte, klingelte ihr Handy. Sie nahm das Gespräch entgegen, es war die Dienststelle in Portland.
» Wir haben den Teilnehmer ermittelt, der sich auf der Seite des Fischereiverbandes unter dem Pseudonym JH unter herumtreibt « , meldete der Kollege der technischen Abteilung.
» Da bin ich aber gespannt « , entgegnete Cathy.
15
Near Pond Island, Gulf of Maine,
17 . März 2007 , 09 . 15 Uhr (Samstag)
Frank Duval gähnte, er hatte die ganze Nacht über keinen Schlaf gefunden. Es lag nicht am Schaukeln des Bootes und an der Kälte, die in der Nacht über den Golf der tausend Inseln gekrochen war, es lag an Tyler. Wesley Tyler war tot. Die Verletzung, die er sich bei seiner Flucht aus dem verunglückten Bus zugezogen hatte, war zu schwer gewesen. Duval hatte gewartet, bis er seinen letzten Atemzug ausgehaucht hatte, und ihn dann in der gottverlassenen Bucht der Lower Goose Island unter Sträuchern und Gehölz bestattet.
Nach all den Jahren, in denen er mit Tyler seine Zelle in Cedar Junction geteilt hatte, war Tyler wie ein Bruder für ihn. Ein großer Bruder, wie er ihn im Leben nie hatte und der ihn vielleicht sogar davor bewahrt hätte, auf die schiefe Bahn zu geraten. Kurz vor seinem Tod hatte Tyler noch einmal genau erklärt, wie er zur Insel gelangen konnte und an wen er sich dort wenden musste. Dennoch würde es kein leichtes Unterfangen, denn Duval war zeit seines Lebens eine Landratte geblieben. Er hasste das Meer, wo stets ein kühler Wind wehte; er hasste die Seefahrt, dieses Auf und Ab der Wellen drehte ihm den Magen um, und Wasser trank er nur aufgelöst in einem jahrzehntealten Bourbon.
Mitten im Golf der tausend Inseln, auf einer schwimmenden Nussschale, durchgeschüttelt durch die raue See, hatte er sich bereits zweimal übergeben. Doch langsam schien er sich an die Schaukelei zu gewöhnen.
Er hatte Lower Goose Island in Richtung Osten verlassen und war an mehreren, zum Teil bewohnten Inseln vorbeigeschippert, ehe er nach Norden abdrehte. Ab und zu fuhr in der Ferne ein Segler oder ein Motorboot vorbei, doch niemand schien sich für den Skipper auf der alten Sea Ray zu interessieren. Und genau darauf kam es an. Nur nicht auffallen, keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, niemanden neugierig machen. Vor Pond Island musste er aus dem Benzinkanister Sprit nachfüllen. Tyler hatte ihm erklärt, was er alles tun musste, um nach Hell’s Kitchen Island zu gelangen. Mit halber Kraft fuhr er weiter. Tyler hatte ihm die Silhouette der Insel genauestens beschrieben und ihn angewiesen, die Insel auf der Westseite zu umfahren, um an der Nordseite anzulegen. Dort gab es eine kleine Bucht, in der er das Boot verstecken konnte. Der kleine Kompass würde ihm den Weg schon weisen. Kurs Nordnordost. Das größte Problem würde es werden, auf der Insel unbemerkt zu bleiben, denn die Insel war nicht besonders groß, und die Bewohner, vorwiegend Schafhirten und
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