Blutkirsche
im Mai, hatte er sein Leben dafür hergegeben.
Normalerweise ein völlig ungefährliches Rezept – wurden für ihr spezielles Pesto Pinienkerne, Parmesan und Knoblauch gemahlen. Dazu die Blätter und fünfzehn Samenkapseln – sicher ist sicher – der Herbstzeitlose klein gehackt. Alles mit Salz und Olivenöl vermischt, bis eine Paste entstand. Anschließend unter die noch heißen Nudeln gemischt.
Wilma kannte sich mit Kräutern und Wildgewächsen aus. Bärlauch und die tödlich-giftige Herbstzeitlose glichen sich, wuchsen zur gleichen Jahreszeit im Frühling, und ein ungeübter Sammler konnte sie leicht verwechseln.
Sie hatte Ricardo die Nudeln, als Beilage zu gegrilltem Fisch, serviert. Die Aussicht auf ein leckeres Essen lockte ihn. Einer der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie ihren Mann hatte überreden können, ihr bei der Gartenarbeit zu helfen. Vielleicht wurde er auch von seinem schlechten Gewissen geplagt. Es war Ricardos Schuld gewesen, dass Dominik, ihr Sohn bei dem Unfall starb. Ricardo hatte vergessen, ihr Kind anzuschnallen.
Als sie sah, wie sich nach zwei Stunden das Cholchizin in Ricardos Körper ausdehnte, kam so etwas wie Mitleid bei ihr auf, aber sie verhinderte das Aufkeimen des Gefühls. Ricardo bekam Schluckbeschwerden, erbrach sich, es folgten Herzrasen und Krampfanfälle. „Ich brauche einen Arzt, ruf’ sofort einen Arzt! Hol das Handy!“, hatte ihr Mann sie |23| keuchend angefleht. Als er fast nicht mehr atmen konnte und im Sterben lag, sah sie den kleinen weißen Sarg wieder vor sich, in dem der aufgebarte Dominik lag, und zischte Ricardo ins Ohr: „Das ist für unseren Sohn!“
Seine letzte Ruhe hatte Ricardo in ihrer Parzelle im frisch ausgehobenen Frühbeet gefunden, dass entgegen der Gartenordnung viel zu groß war. Erleichtert, dass sie es nicht verkleinert und so der Anordnung der Vereinsleitung gebeugt hatte, wuchtete Wilma den leblosen Körper ins Beet.
Eine dicke Schicht verrotteter Kompost lag auf Ricardo. Seitdem wuchsen die Gurken und Kürbisse, die Wilma als Tarnung zog, ins Gigantische und zogen die Bewunderung ihrer Gartennachbarn auf sich. Sie aß nie davon, sondern warf alles weg.
Fast niemand vermisste ihren Mann. Ihre Erklärung, dass er den Tod seines Sohnes nicht überwinden hatte können und nach Italien zurück sei, wurde von seinen Kollegen beim Theater akzeptiert. Seine Anstellung lief nur für eine einzelne Produktion, sie war ausgelaufen, danach wäre er mal wieder arbeitslos gewesen. Richtige Freunde unter den Kollegen hatte ihr Mann keine. Er galt als egoistisch und rücksichtslos.
Während eines Ätna-Ausbruchs kamen seine Eltern beide bei ihrem Versuch um, Wertgegenstände aus einem Hotel in Piano Provenzana zu retten. Ricardos einzige Schwester war schon früh gestorben. Zwar lebten noch einige entfernte Verwandte in Amerika, diese hatte Wilma jedoch mit Nachrichten beruhigen können. Amerika war weit, die Großonkel Ricardos würden nicht extra nach Deutschland reisen, um nach ihm zu suchen. Überhaupt schien, entgegen der Tradition italienischer Familien, der Zusammenhalt zwischen den einzelnen Mitgliedern des Clans wenig eng zu sein.
Inzwischen konnte sie Ricardos Schrift richtig gut fälschen und Anfragen abwimmeln. Die Anonymität der Großstadt tat ihr Übriges, fast niemand kümmert sich um den anderen, sondern tat nur sein Ding.
Ein paar Monate lang tuschelten Wilmas Kolleginnen hinter ihrem Rücken: „Traurig, erst der Sohn verstorben und jetzt hat sich auch noch der Mann aus dem Staub gemacht.“
Kurz vor dem Einbiegen in den kleinen Pfad, der zu ihrer Parzelle führte, entschied Wilma sich, den Garten im Herbst aufgeben. Frau Möhrle hatte ihr zugeflüstert, dass Harry Kohl in letzter Zeit viele von den Gartennachbarn aus nichtigem Anlass hinausekelte. Die Gründe dafür würde |24| sie schon noch herauskriegen, da könne die Gartennachbarin sich darauf verlassen.
Aus irgendeinem unbestimmten Gefühl heraus mochte Wilma den Vorsitzenden nicht und ging ihm lieber aus dem Weg. Aber es ließ sich nicht vermeiden, ab und zu Worte zu wechseln, da sich ihre Stückle nur durch einen stufigen Pfad und die Außenzäune voneinander trennten, sodass ihre Gartentore vis-à-vis lagen.
Zu den anderen Nachbarn war Wilma freundlich, aber mehr als ein „Grüß Gott“ oder ein kurzes Gespräch über die Braunfäule bei den Tomaten oder ob in diesem Jahr tatsächlich die Eisheiligen ausfielen, mochte sie nicht führen – jemanden von ihnen
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