Blutkirsche
zur Laube führte am Teich vorbei. Dort drehte sich leise ein einsames Windrädchen. Auf dem Dach wehte eine Deutschlandfahne. |28| Die frisch renovierte und neu gestrichene Laubentür stand sperrangelweit offen. Albert trat einen Schritt hinein. Drinnen war niemand zu sehen, es roch nach Bier, Schnaps und Schweiß. Abgestandener Zigarrenrauch waberte durch den kleinen Raum. Eine Liege, auf der ein zusammengeknüllter Schlafsack lag, nahm die Mitte ein. Auf dem klobigen Tisch vor der Eckbank standen eine Geldkassette, die Humpen von gestern Nacht und ein aufgeklappter Laptop. Der Bildschirm war dunkel. Albert erinnerte sich, dass Harry oft in seinem Häusle am Computer saß. Was er genau dabei tat, hatte Albert noch nicht herausgefunden, denn Harry schaltete den Apparat immer schnell aus, wenn er die Hütte betrat. Wahrscheinlich etwas Persönliches und kein Vereinskram, hatte er sich überlegt.
„Harry, bischt du da? Kurz vor zehn!“, rief Albert mit heiserer Stimme. „Wo bischt?“
Lorenz Tressel war ein Mann von raschen Entschlüssen. Von einem Tag zum anderen hatte er mit dem Rauchen aufgehört.
Als seine Frau ihn vor drei Jahren verließ, zögerte er keine Minute, das gemeinsame Haus zu verkaufen und von Neuwied, der Stadt am Rhein, nach Stuttgart in ein Einzimmerapartment zu ziehen. Im Hochhaus kannte ihn kein Mensch. Ihm war es recht. Ihm fehlte fast nichts, weder sein kleines Reihenhaus, noch seine Frau, noch die Tätigkeit als Lehrer, die er wegen seines Gemütszustandes hatte aufgeben müssen. Aber was ihm immer noch sehr zu schaffen machte – und sein Schuldgefühl und der Schmerz würden nie nachlassen – war der Verlust seiner Tochter.
Im April vor fünf Jahren, in den Osterferien, schickte er Sophie los, sein kleines blondgelocktes Mädchen, das damals in die zweite Klasse ging, um beim nächsten Automaten Zigaretten zu ziehen – Sophie kehrte nie mehr zurück. Die Polizei fand keine Spur, weder die Leiche noch einen Hinweis auf ihr weiteres Verbleiben.
Lorenz dachte verzweifelt daran, dass der Verlust eines Kindes war, wie ein Stück von sich selbst zu verlieren, aber noch schlimmer fand er es, nicht zu wissen, was mit ihm geschehen war.
Albert zuckte mit den Achseln. Er hatte keine Lust mehr, nach Harry zu suchen. Vielleicht saß er ja auf seinem Campingklo in dem angebauten Verschlag – anderen hatte er Anbauten verboten, ja sie sogar abreißen lassen. Albert erinnerte sich, dass Gertrud einmal etwas über eine Farm |29| mit Tieren gelesen hatte und daraus ihm den Satz vorlas: „Alle sind gleich, nur einige sind gleicher.“
Sein Gartenfreund wollte sicher nicht gestört werden. Zuerst mal bei mir in der Laube einen starken Kaffee aufbrühen, dachte Albert, dann sehen wir weiter.
Er trat wieder ins Freie. Über seinen Kopf hinweg flog krächzend ein Eichelhäher. Albert blieb für einen Augenblick stehen, wollte schon den Garten verlassen, dann aber drehte er sich um und folgte dem geschwungenen Weg, der hinter das Häusle von Harry führte.
Eine Knöterichhecke bildete die Grenze von Harrys Garten Nummer 13 zu Finks Parzelle Nummer 15 und schirmte diesen fast vollständig ab. Harry hatte außerdem – obwohl die Vereinsvorschriften es nicht erlaubten – zusätzlich eine Bambusmatte gespannt. Nur ein kleiner Rest Hecke blieb frei. Davor, auf dem abfallenden Rain, befand sich der Kompostplatz. Die Anlage bestand aus zwei großen viereckigen Holzlattenbehältern, einem großen Baumstamm, der als Hackklotz diente und einem Thermokomposter. Harry hatte ein dicke Schicht Sand auf dem frisch angelegten Weg vor dem Kompostplatz verteilt. Dahinter türmte sich ein riesiger Haufen frischer Pferdemist auf.
Mitten auf dem dampfenden Mist lag der, sonst so korrekt gekleidete, Vorsitzende, Harry Kohl. Den nackten Oberkörper, auf dem sich die U-Form eines Männerunterhemdes auf der Sonnenbräune weiß abzeichnete, übersäten Pferdeäpfel und Stroh. Die aufgedruckten Geranien der Boxershorts leuchteten in einem satten Rot. Harry Kohl trug nur einen Turnschuh. Der zweite fehlte. Er lag auf dem Rücken, aber der Körper war grotesk verdreht. Getrocknetes Blut überzog das Gesicht und den Oberkörper wie indianische Kriegsbemalung. Harrys blaue Augen starrten weit offen. Unter dem kurzgeschnittenen silbernen Haar klafften zwei Wunden. Aus einer trat eine hellgraue blumenkohlartige Masse heraus, deren Brocken sich über den Mist hinwegzogen, weil der Eichelhäher sie in diesem Augenblick
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