Blutkirsche
Top. Eine lange lila Strähne in der Igelfrisur stach aus dem ansonsten dunklen Schopf heraus und fiel über das rechte Auge. Den linken Unterarm verdeckte eine Mullbinde. Die Füße waren nackt. Anne bemerkte den mageren Bauch und die herausstehenden Rippen über dem gepiercten Nabel. Das junge Ding starrte Anne und Marco mit weit aufgerissenen Augen an.
„Marco Schneller, Kripo Stuttgart. Und das ist Kriminalrätin Wieland. Sind Sie Natalie Kohl? Dürfen wir hereinkommen?“
„Warum?“, fragte Natalie flüsternd und ließ aber dann einen Spalt der Tür frei, damit die beiden Polizisten ihr ins Wohnzimmer folgen konnten. Der Raum hatte den Charme der Ausstattung eines Gutsherrenzimmers, oder das was der Einrichter dafür gehalten hatte, die Schrankwand füllte fast den gesamten Platz darin aus. Das übergroße Sofa, mit grünem Samtüberzug und Kissen in einem satten Karmesinrot, hätte einer zehnköpfigen Familie Platz geboten. Das Sofa stand auf einem Perserteppich in demselben Rot, davor ein kompakter Couchtisch. An den Wänden hingen aber keine röhrenden Hirsche oder eine glutäugige Carmen, sondern überraschenderweise Lithografien, die wie Anne feststellte, keine Drucke waren, sondern Originale.
Alles sah ordentlich, fast zu ordentlich aus. Es standen keine Fotos der Ehefrau von Kohl, überhaupt keine Fotos, auf dem Absatz der Schrankwand oder sonst irgendwo, wie Anne feststellen konnte.
„Wir müssen Ihnen – oder darf ich du sagen?“, unterbrach Marco seine Rede – Natalie nickte. „Wir müssen dir leider eine traurige Mitteilung machen, dein Vater ist tot. Er wurde heute Morgen in seinem Schrebergarten aufgefunden. Unser Beileid.“
„Oh!“, war die einzige Reaktion des Mädchens, das fast teilnahmslos wirkte und sich jetzt auf das Sofa setzte. Es hielt den Blick gesenkt, beide Hände fest ineinander verschränkt.
„Hast du jemanden, der sich um dich kümmert, der die Formalitäten erledigen kann?“, fragte Anne.
Das Mädchen flüsterte: „Ich habe eine Tante, ich weiß nicht ... ich muss ...
„Wo wohnt denn deine Tante?“, unterbrach Marco das junge Ding.
„In Mannheim. Aber wie ist es denn passiert? – Ich verstehe das nicht. Ich muss ...“, stammelte Natalie.
|49| „Wir müssen dir leider mitteilen, dass dein Vater getötet worden ist.“ „Getötet? Von was den? Von wem denn?“
„Das wissen wir nicht. Hatte dein Vater Feinde?“
„Nein, nicht dass ich wüsste!“, Natalies Stimme, lauter geworden, machte inzwischen einen gefestigten Eindruck, sie blickte nun die beiden Polizeibeamten an.
„Wirklich nicht, denk mal nach, Kollegen vielleicht?“
„Kollegen? Mein Stiefvater reiste in der Woche allein, als Vertreter.“
„Wie heißt denn der Arbeitgeber?“
Natalie ging zur Schrankwand und holte aus einer Schublade einen großen Katalog, der unter Pillenschachteln lag. „Das ist die Firma, für die er arbeitet – gearbeitet hat“, ergänzte Natalie und überreichte Anne den farbigen Hochglanzprospekt einer Arzneimittelfirma.
„Okay, da hätten wir mal einen Ansatzpunkt. Für heute wär’s das, falls wir Fragen haben, kommen wir auf dich zu! Oder vielleicht kannst du uns schon eine beantworten?
Wo warst du heute Morgen zwischen sechs und zehn Uhr?“
„Daheim, warum?“
„Ach nur so, wir müssen leider fragen. Gehst du noch zur Schule oder in die Lehre?“ Anne hatte ein aufgeschlagenes Mathematikbuch auf dem Couchtisch entdeckt.
„Nein, ich habe keine Lehrstelle gefunden. Jetzt besuche ich den IB.“
„Was ist denn IB?“, fragte Marco.
„Internationaler Bund für Sozialarbeit. Das ist ‘ne Schule in Vaihingen, wo man üben kann, wie es in den einzelnen Berufen aussieht“, erklärte Natalie den beiden Polizisten.
„Ach so, verstehe“, sagte Anne. „Du solltest deine Tante anrufen, damit sie zur Seite steht, sie wird wissen, was jetzt zu tun ist“, gab sie den Rat, während sie und Marco sich verabschiedeten.
Beim Verlassen des Wohnzimmers warf Anne einen Blick durch die offen stehende Tür in die Küche. Dort lief die Waschmaschine.
Auf der Treppe bemerkte Anne nur: „Merkwürdig. Ich will ja nicht voreilig urteilen, aber diese Natalie Kohl scheint nicht besonders helle zu sein.“
„Vielleicht auch nur geschockt“, entgegnete Marco.
Inzwischen hatte die Schwüle zugenommen, vereinzelte dicke schwarze Wolken überzogen den Himmel, die Luft knisterte. Es roch nach Regen.
|50| „Ich habe Hunger. Gibt es hier irgendwo einen Bäcker
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