Blutkirsche
im Haus, die Nachbarn schliefen noch. Auch die alte Hausbesitzerin, die sie bei jeder Gelegenheit ohne Grund anmeckerte, schlurfte noch nicht durch die Gänge, um auf ihrem Inspektionsrundgang die Einhaltung der Kehrwoche zu überwachen.
Als Natalie in der Wohnung im ersten Stock ankam, verriegelte sie die Korridortür von innen zweimal. Im Bad schlitzte sie sich mit einer Rasierklinge die verheilten Narben am linken Unterarm auf. Das Blut tropfte ins Waschbecken, bis es schließlich versiegte. Natalie ließ das Wasser laufen, bis das Keramikbecken wieder sauber glänzte. Dann zog sie sich eine Verbandsstulpe über die Wunde. Der Schmerz ließ langsam nach. In ihrem Zimmer stöpselte sie ihren iPod ein und verkroch sich bibbernd unter ihre Bettdecke.
Die Parkplätze am Straßenrand der Grazer und der Kärntner Straße waren alle belegt. Auf dem Platz vor dem Gymnasium fand ein Flohmarkt statt. Junge Paare schlenderten suchend, Frauen mit Kopftüchern, vermummt in langen Mänteln, trugen in schweren Plastiktüten ihre erstandenen Schätze und hatten ihre Kinder im Schlepptau. Hausfrauen zogen voll bepackte Einkaufsrollis hinter sich her. Bärtige Männer mit gehäkelten Käppis auf dem Kopf feilschten an Tischen.
Ein Obsthändler, der den Flohmarkt mit dem Gemüsemarkt verwechselt hatte, pries lautstark seine Äpfel an: „Zwei Kilo für zwei Euro!“
Anne hielt instinktiv Ausschau nach ihrer Mutter, hoffentlich war sie nicht wieder unterwegs und kaufte irgendwelchen Krimskrams. Obwohl ihre Wohnung voll gestopft von Antiquitäten und Flohmarktkäufen war, fand Magda Wieland immer wieder etwas, sei es Puppen oder Geschirr, Gläser, Kerzenleuchter, Porzellanskulpturen – Magda sammelte jeden Trödel und Krempel. Die Wohnung und ihre Schränke quollen über. Anne hatte versucht, einiges auf den Dachboden zu bringen oder wegzuschmeißen, |47| aber ihre Mutter protestierte erst lautstark, fing dann an zu weinen, und so hatte Anne es aufgegeben, Ordnung in das Chaos hineinzubringen.
Ihr fiel ein, dass Julian als Kind auch sammelte: Steine, Muscheln, Federn, Autogrammkarten des VfB oder Dinosaurierbildchen, aber von vielem sich inzwischen getrennt hatte.
Endlich fand Anne einen freien Parkplatz vor der Festhalle. Eine Wand des Bonatzbaus war mit Graffiti verunstaltet – jemand wollte den Kommunismus einführen, ein anderer fand Jenny toll, darunter sah sie die alten abgewaschenen Sprayerspuren. Marco hatte sein Motorrad einfach quer zwischen zwei Autos gestellt. Auf den Gehwegen, in den Straßenrinnen, dem Kandel, lagen festgetretene Bäckertüten, benutzte Papiertaschentücher, Pizzaschachteln, Getränkeverpackungen, Zigarettenstummel. Ähnlich sah es auf dem kleinen Grünstreifen zwischen den großen Lindenbäumen aus, die den Platz umsäumten. Eine Frau ließ ungestört vom Flohmarkttreiben ihren Husky auf dem Rain, unter den Bäumen, sein Geschäft verrichten.
Aha, Hundescheißplatz, Müll- und Fressmeile, urteilte Anne.
„Der Platz heißt bei den alten Feuerbächern ‚Die Eyche‘. Um die Jahrhundertwende ist da ein Sumpf gewesen, den man später, als dieses Viertel gebaut wurde, aufschüttete. Eigentlich ist er als Schulsportplatz gedacht!“ Anne gab ihrem Assistenten Heimatkundeunterricht, während sie auf das Haus zusteuerten. Die genaue Adresse von Harry Kohl hatte sie durch einen Datenabgleich mit dem Einwohnermeldeamt erhalten.
Das Jugendstilhaus, Kohl wohnte im ersten Stock, sah von außen recht passabel aus, obwohl es auch die Sprühsignatur eines ‚Künstlers‘ trug.
Sie mussten mehrfach klingeln, bevor eine helle Stimme durch die Haussprechanlage fragte: „Ja?“
„Polizei, machen Sie mal auf“, rief Marco und blickte nach oben, weil hörbar ein Fenster geöffnet wurde und der Kopf eines Mädchens erschien.
Dann summte der Öffner der Alu-Tür. „Na, hier sieht es nicht gerade vornehm aus“, bemerkte Anne, als sie den tunnelartigen Gang betrat, der unter dem Haus und in den Hinterhof führte. Der Beton unter der vorderen Haustür war zerbröckelt, der mit grauer Dispersionsfarbe angemalte Boden wirkte mit seinem abgesprungenen Anstrich schäbig. Die vormals hellgraue Wandfarbe zeigte schmutzige Streifen, der Lack der Innentür war zum Teil abgeblättert, und die Tapete im Treppenaufgang |48| hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Die Treppenstufen glänzten jedoch frisch geputzt.
In der doppelflügigen Korridortür stand ein dünner Teenager, bekleidet mit Jeans und bauchfreiem
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