Blutkirsche
nach.“
Bis sich die Katastrophentouristen verzogen hatten, sollte Polizist Möller vor dem Gartentor stehen bleiben. Laube und Tore wurden versiegelt. Eine gänzliche Überwachung des Gebietes würde schwierig werden, da die Außenzäune an den Wegen für einen einigermaßen sportlichen Neugierigen leicht zu überwinden waren. Zwischen den Nummern 12, 15, 14 und dem Garten des Mordopfers gab es sowieso nur Hecken und Büsche. Auch von der Waldseite her bot die Parzelle den Eindruck, dass der Zaun sehr leicht zu übersteigen war. Anne hoffte, dass die Kriminaltechnik alle Spuren gesichert hatte.
|44| Inzwischen hatte sich am Hauptweg das Häuflein Neugieriger zu einem Menschenauflauf entwickelt. „Dess ka koiner von ons gwä sei, dess do war an Auswärdiger“, ließ sich die einhellige und laut geäußerte Meinung vernehmen.
„Des Volkes Stimme“, bemerkte Marco trocken, während er seine Yamaha startete.
Der Notarzt bewältigte schon seinen nächsten Einsatz. Das Dienstfahrzeug der Spurensicherung, der Leichenwagen und Annes Peugeot bahnten im Schritttempo als Konvoi den Weg, im Schlepptau das Krad von Marco. Der Streifenwagen konnte die Nachhut bilden. Der BMW des Staatsanwaltes war nirgends zu sehen, er hatte sich vorher schon verabschiedet. Nun, übermorgen spätestens würde sie ihn bei der Besprechung wiedersehen.
Im Vorbeifahren warf Anne einen kurzen Blick in das Festzelt.
Einige unverdrossene Gäste saßen an den Biertischen, vor sich eine Maß oder ein Viertele Roten, auf Papptellern lagen halbe Hähnchen mit Brötchen. Der Akkordeonspieler saß missmutig in einer Ecke, das Instrument vor seinem Bauch, aber er spielte nicht. Ein kleines Grüppchen Menschen, zünftig gekleidete Frauen in Rüschenblusen und Dirndl, Männer in rotkarierten Hemden und in Lederhosen stand unschlüssig am Eingang des Zeltes.
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|45| 4
Natalie strampelte mit ihrem Fahrrad neben dem Feuerbach, der hier noch offen floss, auf dem schmalen asphaltierten Weg entlang. Sie kämpfte sich durch die Oswald-Hesse-Straße, an mehreren Baustellen vorbei, bis zur Stuttgarter Straße. Der Run auf das große Warenhaus und den Baumarkt in der Nähe des Bahnhofs hatte noch nicht begonnen. Trotzdem belegten schon Autos die Parkbuchten am Straßenrand. Einige Fußgänger waren unterwegs – der Wochenmarkt am Kelterplatz fing samstags um sieben Uhr an.
Nun fuhr Natalie halsbrecherisch schnell. Fast hätte sie eine ältere Frau, die Obst, Gemüse und einen Fliederstrauß in ihrem Korb verstaut hatte, auf dem Zebrastreifen beim Wilhelm-Geiger-Platz überfahren. Natalie bog in die Grazer Straße ein. Die ersten Flohmarktbeschicker hatten ihre Tische auf dem Festplatz aufgebaut. Voll beladene Kombis und Vans fuhren im Schritttempo rund um das Karee und suchten einen Parkplatz.
Ihr Fahrrad stellte Natalie im Hof hinter dem Haus ab. Trotz der Morgensonne fror sie. Wie hatte sie nur so dumm sein und auf den Trick ihres Stiefvaters hereingefallen können: „Ich hab’ mein frisches Polohemd vergessen. Ich muss ordentlich für den Kassendienst aussehen. Bring es mir! Sofort!“
Natalie kannte seine Zornesausbrüche, es war besser zu gehorchen.
Dabei fühlte sie sich vor ihm so sicher, und das eigentlich schon seit Jahren, seit dem Zeitpunkt, als sie so dick wurde und dauernd Bauchschmerzen bekommen hatte.
Damals musste sie auch drei Monate nicht zur Schule gehen, ihr Vater entschuldigte sie, weil ihr dauernd übel war. Bestimmt hatte sie etwas Falsches gegessen. Und dann starb ihre Mutter über Nacht. Herzinfarkt, meinte ihr Vater. Dabei konnte Natalie sich nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals über ihr Herz geklagt hätte. Nur daran, dass am Abend vor ihrem Tod sie von einem schrecklichen Streit zwischen den Eltern wach wurde. Ihre Mutter hatte geschrien: „Ich lasse mich scheiden, du Schwein.“
|46| Vierzehn Tage nach der Beerdigung, an der sie nicht teilnehmen durfte – ihr Vater hatte sie eingesperrt, und allen Nachbarn und der Tante erzählt, sie sei krank – bekam sie besonders schlimme Bauchschmerzen. Die hörten dann aber auf, als ihr Vater die Tropfen in den Kamillentee tat. Sie war wie im Dämmerschlaf gewesen. Es rumorte und zerriss sie fast und am nächsten Morgen waren die Bauchschmerzen plötzlich weg und ihr Bauch war viel flacher geworden. Es seien Koliken oder Blähungen gewesen, hatte ihr Vater erklärt. Aber das war vier Jahre her.
Natalie schloss die Haustür auf, um diese Uhrzeit war es immer ruhig
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