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Blutkirsche

Blutkirsche

Titel: Blutkirsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Weitbrecht
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Spielplätzen fern.
    Er überlegte, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Es gab über 1600 vermisste Kinder in Deutschland. In diesen Gruppen halfen die Eltern einander mit Gesprächen, versuchten die Kinder aufzufinden. Er verwarf es dann doch. Wenn er sich ihnen anschloss, hätte er wieder Erklärungen suchen müssen und sein Leid offenbaren, aber er wollte es mit sich selbst ausmachen, sich bestrafen.
    Seine Frau redete nicht mehr mit ihm, und wenn doch, kamen nur Vorwürfe. Am Ende trennten sie sich. Seine Frau hatte einen neuen Partner gefunden.
    Das Haus wurde verkauft. Lorenz wohnte in einer kleinen Pension direkt an der Deichmauer. Von seinem Fenster im zweiten Stock aus beobachtete er die vorbeiziehenden Lastenkähne und Ausflugsboote auf dem Rhein. Er hörte ihren Signaltönen zu. An sonnigen Tagen glitzerte der Fluss in einem tiefen Blau, und Lorenz überlegte sich, ob es nicht am einfachsten wäre, sich im Strom treiben zu lassen, immer weiter und weiter bis ins Meer hinaus. Bis er keine Kraft mehr hätte zurückzuschwimmen.
    Er schlief schlecht, und während er grübelnd lag, obwohl ein Arzt ihm Antidepressiva und Psychopharmaka verschrieben hatte, fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf.
    Wenn er sich jetzt nicht selbst, wie Münchhausen an seinem eigenen Schopf, aus dem Sumpf herauszog, würde er vollends kaputtgehen und Sophie so nicht finden können. Die Überzeugung, dass sie verschleppt worden sei und deshalb die Suche in der Umgebung erfolglos gewesen war, konnte niemand ihm ausreden.
    Zuerst musst er umziehen, die Stadt am Rhein verlassen. Er zog eine Deutschlandkarte heraus, kreiste mit geschlossenen Augen den Zeigefinger auf ihr. Als er stoppte und die Augen aufmachte, blieb der Finger auf Stuttgart liegen. Lorenz hatte dies als Omen angesehen.
    |79| Er zog in die Thomas-Mann-Straße in ein winziges Apartment im vierten Stock eines Hochhauses. Wenn er zu seinem Fenster hinausblickte, sah er auf den gegenüberliegenden Lemberg, dort gab es Weinreben, dahinter, am ‚Horn‘, erkannte er den Wald. Das blieb auch der einzig erfreuliche Ausblick, die Umgebung wirkte trostlos, wie von Gott verlassen mit ihren planlos zusammengewürfelten Häusern verschiedenster Bauweise. Die Wiese vor einem Kindergarten – Lorenz hörte oder sah die Kinder nie, vielleicht weil er bei schönem Wetter immer zu seiner Parzelle fuhr – umgab eine struppige dichte Brombeerhecke, die im Sommer den abgelegten Müll verbarg, aber in den Wintermonaten alles Hässliche und die Gedankenlosigkeit der Anwohner offenbarte. Hier wurde sicherlich noch nie eine Let’s-Putz-Aktion veranstaltet, vermutete Lorenz.
    Die Wohngegend zwei Straßen weiter galt als gute Adresse. Trotzdem war die Infrastruktur miserabel, es gab weder einen Arzt noch eine Apotheke. Der Bäcker und der einzige Metzger hatten schon lange geschlossen, ein Discounter hielt die Stellung und verkaufte Brot, das wie Gummi schmeckte und nur einen Tag frisch blieb. Ein Kirchengebäude ohne Kirchturm, dafür aber mit Glocke, bimmelte kraftlos für die Toten und sonntags zum Gottesdienst.
    Trotzdem bereute er nie die Entscheidung, in das Hochhaus und die Großstadt zu ziehen − dass hier niemand sein Schicksal kannte, machte ihm nichts aus. Im Augenblick besaß er sowieso keine Kraft, noch einmal umzuziehen. Es gab in Stuttgart genügend Berufsschulen, vielleicht konnte er eines Tages doch wieder unterrichten. Vor seinem Unglück hatte er seinen Beruf geliebt, wichtig gefunden, neben dem schulisch fachlichen Unterricht den Schülern Werte zu vermitteln, sie über Politik und Gesellschaft zu informieren und sie so zu vernünftigen Menschen und Bürgern heranzuziehen, zumal in manchen Elternhäusern dies versäumt wurde. Aber bis er wieder als Lehrer arbeiten konnte, musste er, damit er gesundete, unbedingt eine neue Aufgabe finden: Falls er sein Leben umkrempelte, kamen die Hobbys, die er früher wegen und mit seiner Tochter betrieben hatte, wie Radfahren, Schwimmen oder Wandern nicht mehr infrage – zu sehr haftete an sie die Erinnerung. Und es musste etwas sein, was er draußen tun konnte.
     
    Ein Garten! Eine gute Idee! Sich körperlich an der frischen Luft zu betätigen, brachte ihn bestimmt auf andere Gedanken.
    |80| Früher hatte er es gehasst, als seine Mutter ihn und seinen Bruder sich selbst überließ, von März bis in den späten Herbst hinein, Stunde um Stunde die Scholle bearbeitete, in jeder freien Minute das Gemüse und Obst einkochte, oder

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