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Blutklingen

Blutklingen

Titel: Blutklingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Abercrombie
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allzu viel nachgewachsen war. Curnsbick deutete zu seinem riesigen, beständig wachsenden Gebäude hinüber und erzählte etwas mit ausladenden, begeisterten Handbewegungen, und Ro sah ihn an und hörte konzentriert zu, nahm alles in sich auf, während Pit mit dem Fuß einen Stein durch den Dreck kickte.
    Scheu schniefte und schluckte und spritzte sich noch mehr Wasser ins Gesicht. Sie konnte doch gar nicht weinen, wenn ihre Augen sowieso schon nass waren, oder? Sie hätte vor Freude in die Luft springen sollen. Trotz der schlechten Chancen, der Härten und Gefahren – es war ihr gelungen, sie zurückzuholen.
    Aber sie konnte nur daran denken, welchen Preis das gekostet hatte.
    Die Leute, die getötet worden waren. Einige davon würde sie vermissen, eine ganze Menge andere nicht. Manche hätte sie sogar als böse bezeichnet, aber niemand ist an sich böse, oder? Es waren trotzdem Tote, die jetzt nichts Gutes mehr tun konnten, die keine Abbitte leisten und nichts mehr geraderücken konnten, Menschen, die ein ganzes Leben lang zu dem geworden waren, was sie nun einmal waren, und die man aus der Welt gerissen hatte, um sie wieder zu Schlamm werden zu lassen. Sangied und seine Geister. Papa Ring und seine Spießgesellen. Waerdinur und sein Drachenvolk. Lief, da unter der Erde auf der Großen Ebene, und Grega Cantliss, der am Galgen tanzte, und Brachio, wie er von Pfeilen durchbohrt wurde, und …
    Sie steckte das Gesicht ins Tuch und rubbelte ganz fest, als ob sie damit die Toten wegrubbeln konnte, aber sie klebten an ihr fest. Waren in sie hineintätowiert wie die Rebellenparolen auf Corlins Arme.
    War es ihre Schuld? Hatte sie das alles in Gang gesetzt wie der losgetretene Kiesel, der eine Lawine ins Rollen bringt? Oder war Cantliss schuld oder Waerdinur oder Lamm? War überhaupt irgendwer schuld? Ihr Kopf schmerzte von dem Versuch, den großen Wandteppich all dessen, was passiert war, auseinanderzunehmen und ihrem eigenen, hässlichen kleinen Faden darin zu folgen und dabei nach Schuld zu suchen wie ein fiebriger Goldwäscher an einem Bachbett. Es hatte keinen Zweck, immer wieder daran herumzupulen wie an einer verschorften Wunde. Aber trotzdem, jetzt, da alles hinter ihr lag, konnte sie nicht damit aufhören, immer wieder zurückzublicken.
    Sie humpelte zum Bett, und die alten Bettfedern knarrten, als sie sich setzte, die Arme um den Oberkörper geschlungen, und sie wand sich und zuckte zusammen angesichts der kurz aufblitzenden Erinnerungen an vergangene Dinge, als würden sie gerade jetzt passieren.
    Cantliss, der ihren Kopf gegen ein Tischbein schmetterte. Ihr Messer, das tief in Fleisch eindrang. Keuchen vor ihrem Gesicht. Dinge, die sie tun musste. Ein Ringkampf mit einem verrückten Geist. Lief ohne seine Ohren. Wie Sangieds Kopf abgeschlagen wurde, wamm . Entweder die anderen oder sie. Wie sie auf das Mädchen runterguckte, das sie erschossen hatte, kaum älter als Ro. Pfeil in einem Pferd, stürzender Reiter. Keine Wahl, sie hatte keine Wahl gehabt. Lamm, der sie gegen die Felswand schleuderte. Waerdinur, dem der Kopf gespalten wurde, knack , und wie sie von dem Wagen stürzte und noch mal und noch mal und noch mal …
    Sie hob ruckartig den Kopf, als ein Klopfen ertönte, und wischte sich die Augen an ihrem Verband ab. »Wer ist da?« Versuchte, irgendwie so zu klingen, als sei es ein Morgen wie jeder andere.
    »Dein Rechtskundiger.« Tempel öffnete die Tür, mit diesem aufrichtigen Gesichtsausdruck, von dem sie sich nie sicher war, ob er echt war. »Geht’s dir gut?«
    »Ich hatte schon leichtere Jahre.«
    »Kann ich etwas tun?«
    »Wahrscheinlich ist es ein bisschen zu spät, dich drum zu bitten, dass du den Wagen nicht in den Graben fährst.«
    »Ein bisschen.« Er kam herein und setzte sich neben sie aufs Bett. Es fühlte sich nicht mal irgendwie komisch an. Wenn man das zusammen durchgemacht hat, was sie erlebt hatten, dann ist wahrscheinlich gar nichts mehr irgendwie komisch. »Hochwürden will, dass wir verschwinden. Sie sagt, wir brächten Unglück.«
    »Kann man wohl kaum bestreiten. Ich staune immer noch, dass sie dich nicht umgebracht hat.«
    »Nun, ich denke, das könnte wohl immer noch passieren.«
    »Wir müssen nur noch ein bisschen warten.« Scheu stöhnte, als sie versuchte, ihren Fuß in ihren Stiefel hineinzuschieben, und vorsichtig ausprobierte, wie sehr ihr Knöchel schmerzte. Noch schlimm genug, dass sie den Versuch aufgab. »Bis Lamm zurückkommt.«
    Schweigen breitete sich nun aus.

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