Blutkrieg
Hexe?«
Andrej überwand endlich seine Überraschung, trat einen
weiteren halben Schritt zurück und nahm nun demonstrativ die
Hand vom Schwertgriff. »Bist du Gryla, die Hexe?«, fragte er.
Für einen Moment blitzte etwas wie Ärger in den dunklen
Augen der Frau auf, der jedoch sofort von einem spöttischen
Funkeln abgelöst wurde. »Ich bin Gryla«, bestätige sie,
schüttelte aber zugleich den Kopf, »aber ich bin keine Hexe.«
Andrej drehte sich mit einer ärgerlichen Bewegung herum und
sagte: »Aber das hat -« Er brach überrascht ab, hinter ihm war
niemand mehr. Fjalar war fort.
»Hat wer gesagt?«, hörte er Grylas Stimme hinter sich. Jetzt
klang sie eindeutig spöttisch.
Langsam und ein wenig verlegen wandte sich Andrej wieder
zu ihr um, sah dann aber noch einmal prüfend in den Schnee.
Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht: Fjalar war zwar
verschwunden, doch seine Fußabdrücke im Schnee endeten
genau hinter Andrej. Er musste auf seiner eigenen Spur
zurückgegangen sein. Aber warum? »Fjalar hat gesagt, dass du «
»Fjalar, der Späher?«, unterbrach ihn Gryla. Eine senkrechte
Falte erschien zwischen ihren wie mit dünnen Tuschestrichen
gemalten Brauen. »Nun, da hat er dich angelogen. Ich bin keine
Hexe.«
»Aber vielleicht kannst du mir trotzdem helfen«, erwiderte
Andrej. Seltsam, er war nicht einmal überrascht. Nun verstand
er, warum Fjalar sich aus dem Staub gemacht hatte.
Gryla sah ihn eine geraume Weile durchdringend an, dann
aber nickte sie, trat zurück und machte zugleich mit der linken
Hand eine einladende Geste. Sie fragte nicht, wobei sie ihm
helfen konnte oder wer er überhaupt war. »Tritt ein«, sagte sie.
»Es ist nicht viel, was ich dir anbieten kann, nur ein warmer
Platz und eine bescheidene Mahlzeit.«
Was im Moment schon beinahe alles war, was er sich
wünschte. Andrej beeilte sich, ihrer Einladung nachzukommen,
warf aber doch noch einmal einen raschen beunruhigten Blick
auf die so jäh abgebrochene Spur des Gnoms. Erst jetzt erkannte
er, dass Fjalar nicht in seinen eigenen Fußstapfen
zurückgegangen war. Seine Spur brach einfach ab, als hätte er
sich in Luft aufgelöst.
»Zerbrich dir nicht den Kopf«, sagte Gryla.
Überrascht blieb Andrej stehen und sah sie an. »Worüber?«
Die Frau lachte leise. »Ich bin vielleicht keine Hexe«, sagte
sie, »doch unter gewissen Umständen kann ich durchaus
Gedanken lesen. Vor allem, wenn sie so deutlich auf dem
Gesicht eines Mannes geschrieben stehen wie im Moment auf
deinem. Du fragst dich, wohin Fjalar verschwunden ist und
wieso er keine Spuren im Schnee hinterlassen hat, habe ich
recht?« Andrej nickte verblüfft, und Gryla fuhr mit einem
neuerlichen leisen Lachen fort: »Er nennt sich nicht umsonst
Fjalar, der Späher. Diese kleine Kröte hat eine Menge übler
Angewohnheiten, aber sie ist auch ein Kind dieses Landes, und
ich kenne niemanden, der sich so leise anschleichen oder seine
Spuren besser zu verwischen vermag wie er.«
Andrej sagte nichts dazu, und er widerstand auch der
Versuchung, noch einmal zurückzublicken; stattdessen folgte er
ihr. Sie hatten erst ein paar Schritte getan, als es rings um sie
herum dunkler wurde. Überrascht sah Andrej über die Schulter
zurück und stellte fest, dass sich die Tür im Fels ebenso rasch
und lautlos wieder geschlossen hatte, wie sie sich vorhin
geöffnet hatte. Gryla war möglicherweise keine Hexe, dachte er,
aber sie tat ihr Bestes, um den Eindruck zu erwecken, sie wäre
es doch.
Es wurde nicht ganz dunkel. Die Decke des hohen,
offensichtlich grob aus dem Fels herausgemeißelten Ganges
wies in regelmäßigen Abständen schmale Löcher oder Schlitze
auf, durch die graues Tageslicht hereinsickerte; nicht genug, um
den Gang tatsächlich zu erhellen, aber immerhin ausreichend,
um sich nicht in völliger Dunkelheit den Weg ertasten zu
müssen. Sie gingen eine lange Treppe hinauf, die aus
unterschiedlich hohen und breiten Stufen bestand, dann betraten
sie einen halbrunden Raum, in dem es wieder heller wurde. Die
gegenüberliegende Wand bestand aus einem großen Fenster, das
kein Glas hatte, sodass Kälte und Wind ungehindert hereindringen konnten. Dennoch war es erstaunlich warm.
»Wie ist dein Name, Fremder?«, fragte Gryla, während sie mit
einer Handbewegung auf einen großen, offenbar ebenfalls aus
Stein gemeißelten Tisch deutete, an dem zwei einzelne Stühle
standen, selbst aber mit schnellen Schritten in die
entgegengesetzte Richtung
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