Blutkrieg
Doch alles
schien wie hinter einer durchsichtigen Mauer, die weder die
Kälte des Eises noch das Heulen des Windes hindurchließ.
Andrej war so verwirrt, dass er die Hand ausstreckte, und kaum
hatte er das getan, da biss die Kälte mit eisigen Zähnen zu, und
er zog den Arm überrascht und erschrocken wieder zurück.
»Du bist also keine Hexe?«, vergewisserte er sich mit einem
entsprechenden Blick zu Gryla.
Sie lächelte. »Wo kommst du her, Andrej?«, fragte sie, anstatt
seine Frage zu beantworten.
»Aus einem fernen Land«, erwiderte er ausweichend.
»Einem Land, in dem es wärmer ist als in unserem, vermute
ich«, sagte Gryla lächelnd. »Gibt es bei euch auch Hexen?«
»Manche behaupten es.«
»Und vermutlich haben sie recht«, sagte Gryla. »Und ebenso
vermutlich weißt du auch nicht, was die wahre Bedeutung des
Wortes Hexe ist.«
»Nein«, sagte Andrej – was nicht der Wahrheit entsprach. Es
hatte einen Grund, dass Abu Dun ihn bei jeder sich nur
bietenden Gelegenheit Hexenmeister nannte.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, flackerte Zweifel in
Grylas Zügen auf, der nach einem langen prüfenden Blick in
seine Augen wieder erlosch, und sie fuhr fort: »Es gibt
Menschen, Andrej – vornehmlich Frauen, doch es heißt,
manchmal hätte auch ein Mann die Gabe –, die die Stimme der
Natur verstehen. Sie wissen um ihre geheimen Kräfte, ihre
Weisheit, aber auch um die Gefahr, die mit diesem Wissen
verbunden ist. Die Welt ist voller uralter Geheimnisse, die sich
nur den wenigsten Menschen offenbaren.«
Sie seufzte und wandte den Blick wieder dem Fenster zu.
»Nach dieser Definition bin ich vielleicht sogar eine Hexe, auch
wenn Fjalar meint, mich damit zu beschimpfen. Ich weiß ein
wenig um die Heilkräfte der Natur.«
Sie wusste verdammt viel mehr darüber als nur ein wenig,
dachte Andrej. Aber er hütete sich, das auszusprechen, und
wartete stattdessen ab.
»Vielleicht kann ich deinem Freund helfen«, fuhr sie fort. »Es
wäre allerdings klüger gewesen, du hättest ihn gleich mitgebracht.«
Andrej verzog die Lippen. »Ich weiß«, sagte er. »Aber du
wirst mich verstehen, wenn du ihn siehst.« Die Wahrheit war,
dass nicht einmal seine übermenschlichen Kräfte gereicht
hätten, um Abu Dun durch den tobenden Schneesturm zu tragen.
Er wollte es zwar nicht zugeben, doch auch er litt noch immer
unter den Nachwirkungen des Giftes, das ihnen die – wie hatte
Gryla sie genannt? – Traumspinnen injiziert hatten. Manchmal,
wenn er schlief, kamen die Träume zurück, und auch tagsüber
fühlte er sich noch schwach und krank.
»Dann«, sagte Gryla, ohne auf seine rätselhafte Bemerkung
einzugehen, »muss ich wohl zu ihm gehen. Du hast ihn in
Fjalars Höhle zurückgelassen, sagst du?«
Andrej wurde hellhörig, denn etwas an der Art, in der Gryla
die Frage gestellt hatte, gefiel ihm nicht. »Ja«, sagte er.
Erschrocken fügte er hinzu: »Ist er dort in Gefahr?«
Und auch diesmal antwortete Gryla nicht schnell genug, um
ihn völlig zu überzeugen. »Nein«, behauptete sie. »Fjalar ist ein
heimtückischer kleiner Kerl, verlogen, boshaft und großspurig,
doch er würde niemals einen Wehrlosen morden. Was hat er von
dir verlangt, damit er dich zu mir bringt?«
»Nichts«, antwortete Andrej.
Das schien Gryla zu überraschen. Schließlich zuckte sie
jedoch mit den Achseln. »Dann sollten wir uns auf den Weg zu
deinem Freund machen«, sagte sie. »Wenn die Geschichte
stimmt, die du erzählt hast, ist er in großer Gefahr.«
»Aber du kannst ihm helfen?«, sagte Andrej.
Gryla nickte. »Das kann ich«, sagte sie. »Nur wäre da noch
eine Frage zu klären.«
»Und welche?«, fragte Andrej. Also ob er das nicht wüsste!
»Was bekomme ich dafür?«, erwiderte Gryla.
Andrej schwieg einen Moment, dann fragte er: »Was willst
du?«
Und Gryla sagte es ihm.
Es war vielleicht nicht das eleganteste Gefährt, mit dem Andrej
jemals gereist war, und auch nicht das schnellste, auf jeden Fall
aber das sonderbarste, vielleicht auch das unheimlichste.
Der Schlitten, der sie erwartet hatte, nachdem Gryla und er den
Turm über die lange steinerne Treppe verlassen hatten, war breit
genug für zwei und lang genug für acht Personen oder mehr, und
er wurde von einem halben Dutzend zottiger Kreaturen gezogen,
von denen Andrej zuerst dachte, es wären riesige Wölfe.
Als er aber seinen ersten Schrecken überwunden hatte (wobei
ihm Grylas spöttisches Lächeln nicht unbedingt half), erkannte
er, dass er
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