Blutmaske
Pracht ebenso wenig wie die Andenken aus den Zeiten,
als der Marquis noch ein bekannter und bewährter Soldat
des Königs gewesen war. Ein Held auf dem Schlachtfeld,
ruhmreich, vielfach ausgezeichnet.
Und doch genauso verflucht
wie ich, dachte Jean.
Endlich stand er vor der Tür des Salons. Sie wurde ihm erst
geöffnet, nachdem er noch einmal warten musste, um ihm
deutlich zu machen, wie unwichtig seine Gegenwart dem Marquis
war. Der Bedienstete machte einen Schritt in den Raum
und verkündete laut seinen Namen, dann zog er sich wieder
zurück.
Jean wusste, was er tun sollte, doch er fand keinen Anfang,
sondern klammerte sich an Hut und Waffe. Erst nach einer
Weile suchte sein Blick den seines Gegenübers. »Mon Seigneur«,
sprach er mit deutlichem Zittern in der Stimme, »Ihr seht einen
verzweifelten Mann vor Euch, dem die Bestie beinahe alles genommen
hat, was er liebt.«
»Und dennoch habt Ihr über sie triumphiert, Monsieur. Meinen
Glückwunsch dafür.« Der Marquis zeigte mit vornehmem
Handschwung auf den Sessel ihm gegenüber. »Nehmt Platz und
schildert, was ich für Euch tun kann, Monsieur.«
Jean ließ sich in das Polster sinken. Auf unerklärliche Weise
fühlte er sich vor de Morangiès wie ein Schuljunge, der dem
Vater gestehen musste, dass er einen Apfel gestohlen oder ein
gutes Glas zerbrochen hatte. Der Adlige wirkte trotz der nicht
übermäßig protzigen Uniform unglaublich autoritär und beeindruckend,
eine wahre Majestät.
»Ich jagte die Bestie jahrelang, mon Seigneur, in vielen Pfarreien,
und streckte sie endlich nieder. Aber ich fürchte … es gibt
eine zweite, die auf dem besten Wege ist zu entkommen.«
»Eine zweite? Ihr redet so wirr wie Abbé Acot, Chastel.« De
Morangiès versuchte es mit Unfreundlichkeit, obwohl auch seine
innere Anspannung offenkundig stieg.
Jean schüttelte den Kopf. »Nein, mon Seigneur. Eine der Bestien
war … war mein Sohn, den ich mit meinen eigenen Händen
getötet habe.« Er schwieg, weil die Gefühle aufstiegen und ihn
zu überwältigen drohten. Der Dreispitz vibrierte, da die Finger
das Zittern an ihn weitergaben. Jean atmete ein und aus, fing
sich und setzte erneut an. »Aber er war nicht die einzige Bestie.
Es gibt Hinweise, mon Seigneur, dass Euer Sohn etwas damit zu
tun hat.«
De Morangiès starrte ihn an, doch Jean hielt dem Blick stand.
Und dann schien sich plötzlich etwas im Gesicht des Adligen zu
verändern. Er langte hastig nach seinem Glas und stürzte es
hinab. »Ihr seid wahnsinnig, Chastel«, raunte er. »Vollkommen
wahnsinnig! Seid Ihr in der Wildnis …«
»Ich bin sicherlich nicht wahnsinnig, auch wenn ich in diesem
Aufzug vielleicht den Eindruck erwecken mag. Seit dem
Brand im Kloster folge ich der Fährte einer Bestie, die von den
Mauern wegführte und quer durchs Gévaudan ging, um letztlich
hier zu enden. Ich kenne diese Spuren, mon Seigneur, ich
kenne sie sehr genau. Und Ihr auch.«
De Morangiès legte die Fingerspitzen aneinander und schluckte.
»Ich sehe keinerlei Verbindung zu meinem Sohn, Chastel«,
sagte er und hielt die Maskerade aufrecht, so gut es ging, aber
der unstete Blick, der es nicht wagte, Jeans Augen zu treffen,
verriet zu viel.
Diese Unsicherheit machte Jean mutiger. »Es war Euer Sohn,
mon Seigneur, der uns aus dem Gefängnis von Saugues befreit
und vor der Strafe bewahrt hat.« Er stand auf, warf den Dreispitz
auf den Stuhl und lehnte die Muskete gegen die Lehne.
»Und Euer Sohn, mon Seigneur, kennt meinen Sohn aus den
Tagen in der Fremde. Ich weiß nicht, was sich damals ereignete,
aber ich bin mir sicher, dass sie mehr als nur Bekannte waren.«
Jean beugte sich über den Tisch. »Bei den Toten, die mein Sohn
und Euer Sohn zu verantworten haben, bitte ich Euch, die
Wahrheit zu offenbaren: Ist Euer Sohn eine Bestie? Kennt er die
Frau, die das Bestienweibchen ist? Trägt er die Schuld, dass
mein Antoine zum reißenden Tier geworden ist, und unterrichtete
er ihn im Morden, mon Seigneur?
Sagt mir, was Ihr
wisst!«
Der Marquis sah minutenlang auf den Tisch, abwesend und
mit immer bleicherem Ausdruck, dann senkte er den Kopf und
bedeckte das Gesicht zur Hälfte mit der Hand. »Es ist ein furchtbarer
Fluch, Chastel«, flüsterte er verzweifelt. »Er kann nichts
dafür.«
»Er ist nicht länger Euer Sohn, nicht mehr der Mensch, den
Ihr einst in die Welt gesetzt habt, mon Seigneur. Ich … auch ich
selbst habe lange Zeit gebraucht, um mir einzugestehen, dass
Antoine für immer verloren ist.« Jean kannte die Gefühle,
Weitere Kostenlose Bücher