Blutmaske
immer noch
mein Sohn, Chastel. Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass
es ein Mittel dagegen gäbe, und versuchte vieles, für das Gott
mich im Jenseits strafen wird.«
Jean spürte eine Spur Mitleid für den Marquis, das sich gegen
die Wut auf den Mann stemmte, der ein mörderisches Wesen
hatte frei umherlaufen lassen.
»Er ließ sich nicht einsperren, Chastel«, raunte de Morangiès
mit bebenden Schultern. Er erahnte die Gedanken des Wildhüters.
»Er lachte mich aus und lebte sein Leben. Aber als die
Morde geschahen und er nachweislich nicht an den Orten gewesen
sein konnte, glaubte ich an seine Unschuld. Oder besser
gesagt«, er senkte den Blick, »ich redete mir ein, dass er
unschuldig war, und machte Jagd – wie er – auf die andere
Bestie.«
»Auf meinen Sohn, der von Eurem Sohn lernte, mon Seigneur.«
»Ja, vermutlich wird es so gewesen sein«, sagte der Marquis
erschüttert.
Schweigend saßen sie im Salon. Der eine Mann trauerte um
seine Söhne, der andere bereitete sich auf den Tod seines eigenen
Sprösslings vor, während die Nacht hereinbrach und die
Livrierten erschienen, um die Kerzen zu entzünden.
De Morangiès verlangte nach einer neuen Flasche Rotwein,
noch bevor er die andere leerte. »Auch ich habe gelernt, Chastel.
Mit der Krankheit meines Sohnes und den Morden gingen weitere
merkwürdige Begebenheiten einher.« Er ließ etwas zu essen
bringen. In seiner Stimme steckte der Alkohol, machte sie undeutlicher
und dramatischer. »Menschen, die nach meinem Sohn
suchten, tauchten im Gévaudan auf. Die Art der Morde, die er
abseits im Vivarais begangen hatte, lockte sie an. Der Legat, den
Ihr erschossen habt, war nur einer davon.« Er bedeutete seinem
Gast, sich zu stärken und von dem Braten, dem Brot und dem
Gemüse zu nehmen, das gerade hereingebracht wurde.
»Die Männer im Wald waren diese anderen, mon Seigneur?«
Jean nahm sich Brot und schnitt Fleisch von der gebratenen
Hirschkeule.
»Ihr habt es erfasst. Es waren aber keine Italiener, wie Ihr angenommen
habt, sondern Rumänen.« Er stand auf, ging zu
einem Sekretär und öffnete eine kleine Schublade. Mit etwas
Metallischem, Goldenem kehrte er zurück und legte es vor Jean
auf den Tisch. »Das haben wir einem von ihnen abgenommen,
als sie zum ersten Mal im Gévaudan auftauchten.«
Jean sah eine goldene Kette mit festen Gliedern; der Anhänger
bestand aus einer dicken Fassung, in die ein Reißzahn eingelassen
war. Ein Reißzahn, wie er nur zu einem Loup-Garou
passte! »Wer sind sie?«
»Sie nennen sich selbst Orden des Lycáon. Sie verehren die
Bestien und streben nach der vermeintlichen Göttlichkeit, die
sie der Sage nach durch Zeus erhalten haben. Sie suchen nach
den Loup-Garous, beschützen sie vor Gefahren und trachten
danach, in einem Ritual von ihnen entweder gebissen oder zerfleischt zu werden. Wie es für einen Akoluthen endet, hängt
von dem Willen des Loup-Garou ab.«
»Wahnsinnige!« Jean konnte nicht fassen, was er da hörte.
Das bedeutete, dass seine Arbeit mit François’ Tod lange nicht
beendet war. Er würde nicht ruhen können, bevor er nicht auch
diesen Orden ausgemerzt hatte. »Wisst Ihr mehr über sie, mon
Seigneur?«
»Nicht mehr, als ich Euch bereits sagte. Ich ahne nur, dass
mein Sohn die Geheimnisse des Ordens kennt.«
»Und wo finde ich ihn, mon Seigneur?«
De Morangiès legte die Hände zusammen. Ein letztes Mal
überlegte er, haderte mit seiner Entscheidung. »Rom«, sagte er
schließlich. »Er ist nach Rom gereist, um eine Sache zu Ende zu
bringen, wie er meinte.« Der Marquis wischte sich die Hände an
einer Serviette ab, kehrte zum Sekretär zurück und nahm Tinte
und Federkiel zur Hand. »Das ist die Anschrift der Absteigen,
die er gern benutzt. Ich schreibe Euch außerdem den Namen
von zwei seiner Freunde auf. Solltet Ihr mit den Adressen nicht
weiterkommen, fragt sie nach Beistand.« Er schrieb das Blatt
beinahe voll, danach setzte er einen großen Tropfen Siegellack
darunter und drückte seinen Ring hinein. »Das ist alles, was ich
für Euch tun kann, Chastel.« Er legte einen Beutel dazu. »Das
sind einhundert Livres. Sie werden Euch ein wenig helfen, hoffe
ich. Solltet Ihr weitere Unterstützung benötigen, lasst es mich
wissen.«
»Ihr seid sehr großzügig, mon Seigneur.«
De Morangiès kehrte an den Tisch zurück und reichte Beutel
und Blatt an den Wildhüter. »Nein, ich bin nicht großzügig. Ich
erkaufe mir nur Euer Schweigen, Chastel. Mein Gewissen kann
ich nicht mehr reinwaschen.
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