Blutmaske
mehr, der Stress macht.« Er nickte wie zum Beweis die leer gefegte Straße hinab, in der nur zwei einsame Taxen auf Gäste lauerten.
Sia fröstelte bei der Vorstellung, mit dem Motorrad nach Hause fahren zu müssen.
Am besten so langsam wie möglich.
Die hohe Geschwindigkeit, die ihre ungedrosselte Hayabusa erreichen konnte, brachte gegen Kälte rein gar nichts.
Schleichen ist angesagt.
»Ich bleibe, Jochen. Man weiß nie.« Sie steckte die Hände in die Taschen ihres schwarzen Ledermantels. »Vielleicht wird es noch wärmer.«
»Du und dein Motorrad. Nimm bei dem Wetter doch die Tram.« Jochen steckte sich eine Zigarette an und warf ihr einen schnellen Blick zu. »Ja, ich weiß. Rauchen kann tödlich sein«, sagte er paffend.
»Rauchen
ist
tödlich«, gab sie zurück und pflückte ihm die Kippe von den Lippen. »Wenn du schon Nikotin brauchst, dann besorg dir ein paar Pflaster. Oder kau einen Kaugummi.«
»Ist nicht das Gleiche«, grummelte er und verfolgte leidend, wie sie die Zigarette unter dem Absatz ihrer Boots zertrat. Zischend starb der letzte Rest Glut im pudrigen Schnee.
»Wegen des Mundgeruchs?«, meinte sie spöttisch.
»Sehr witzig, Frau Sarkowitz.« Er grinste ertappt. »Hast ja recht.«
»Ich weiß, dass du dir eine anstecken wirst, sobald ich gegangen bin. Deswegen wolltest du mich doch loswerden, oder?« Sie lachte auf. »Solange wir beide Dienst schieben, lass ich dich nicht rauchen.« Sie rempelte ihn in die Seite. »Außerdem bist du so herrlich aggressiv, wenn du kein Nikotin bekommst. Genau richtig für hier.« Sia rückte die dunkle Militaryschirmmütze aus Wolle auf dem roten Schopf zurecht; die Sonnenbrille im Schweißer-Look hatte sie mit dem Bügel an den Kragen des Pullis geklemmt.
Ein letztes Fauchen, und der Heizpilz erlosch. Das heiße Metall tickte leise, kühlte ab.
»Super scheiße«, kommentierte Jochen. »Ich hol eine neue Gasflasche.« Er eilte die Stufen hinab.
Der Wind verlor seine Wucht, als sähe er sich als Sieger im Kampf gegen den Heizpilz. Die Schlacht war geschlagen.
Wenigstens etwas.
Sias Blick wanderte zum Gebäude des MDR , das sich gleich neben der Bastei in den Himmel reckte. Kleine Lämpchen blinkten hoch oben und schienen mit den Sternen wetteifern zu wollen.
Gestirne.
Ihre Gedanken schweiften ab.
Früher hatte sie wie viele andere Menschen geglaubt, dass die Seele nach dem Tod hinauf in den Himmel und zu den Engeln fliegen würde.
Gerade heute hatte sie das Gleiche wieder einem kleinen Jungen erzählt. Kalle, elf Jahre und ein aufgewecktes Kerlchen. Voller Ideen, was er später mal alles erfinden und machen wollte, und voller Krebszellen. Leukämie.
Dem Himmel und den Engeln waren Kalle und seine Ideen von der Zukunft gleichgültig. Das war die bisher härteste Lektion in ihrem Leben gewesen: Nicht alles, was geschah, konnte sie beeinflussen, weder allein noch mit der Hilfe anderer. Noch mit den außergewöhnlichen Kräften, die ihr gegeben waren.
Sie wusste, dass Kalles Leben sich dem Ende zuneigte, auch wenn die Prognosen gut waren. In drei Tagen stand seine Entlassung an, und sie hatte es noch immer nicht übers Herz gebracht, dem behandelnden Arzt einen Hinweis zu geben. Es machte in diesem Fall auch keinen Sinn, wenn er mit Kalle und dessen Angehörigen über den kommenden Tod sprechen würde. Sie würden es nicht verstehen angesichts der guten Laborwerte. Und der Arzt würde es nicht rational erklären können, obwohl er genau wusste, dass der Junge verloren war. Sia galt als ultimative Todesbotin. Hatte sie das Ableben einer Person laut ausgesprochen, dann war es so. Das medizinische Personal hatte es akzeptiert und ihre Kunst nicht weiter hinterfragt.
Denn Sia fühlte den Tod.
Es war keine berauschende, glücklich machende Gabe. Bei aller Faszination schmerzte sie ihr Wissen gelegentlich, gerade bei Kindern. Dabei verschuldete sie weder deren Ableben, noch vermochte sie es aufzuhalten. Für ein Wesen, das mit Unsterblichkeit geschlagen und zugleich gesegnet war, bedeutete der Tod etwas Besonderes.
Gewöhnen werde ich mich dennoch nie daran.
Sie blies warme Luft gegen ihre Handschuhe, um die kriechende Kälte aufzuhalten.
Zudem hatte sie den Tod in den letzten Jahrhunderten allzu oft selbst gebracht: mit Zähnen und Händen, mit ihren Dolchen, mit anderen Waffen. Den Unschuldigen ebenso wie den Schuldigen.
Das Leben nach ihrem eigenen Ableben war einst rasant, dramatisch, opulent und tragisch verlaufen, bis es für viele Dekaden in
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