Blutmusik
Schlafenszeit.
Er lag auf seinem Feldbett, kaum in der Lage, einen Arm zu
bewegen.
Wir können deine Körperform nicht länger
erhalten.
- Was?
Du wirst bald wieder in unseren Bereich zurückgezogen
werden, innerhalb von zwei Tagen. All deine Arbeit im
Makro-Maßstab muß bis dahin abgeschlossen sein.
- Nein…
Wir haben keine Wahl. Wir haben es lange genug
hinausgezögert. Wir müssen umwandeln.
»Nein! Ich bin nicht bereit! Das ist zuviel!« Er merkte,
daß er schrie, und die Angst gab ihm die Beweglichkeit
zurück. Er fuhr hoch und saß auf dem Rand des Feldbettes,
das grotesk von Schwielen verformte Gesicht
schweißtriefend.
40
»Wollt ihr wieder gehen? Einfach weggehen?« Suzy hielt
die Hand des Bruders fest. Kenneth machte vor dem Aufzug halt. Die
Tür ging auf.
»Es ist hart, einfach wieder menschlich zu sein, weißt
du«, sagte er. »Es ist einsam. Also werden wir
zurückgehen, ja.«
»Einsam? Und wie, glaubt ihr, wird mir zumute sein? Ihr seid
wieder tot.«
»Nicht tot, Sämling. Du weißt das.«
»Ihr könntet es genausogut sein.«
»Warum kommst du nicht zu uns?«
Suzy begann zu zittern. »Kenny, ich fürchte
mich.«
»Sieh mal, sie haben dich verlassen, wie du wolltest. Und sie
werden dich gehen lassen. Obwohl ich nicht weiß, was du dort
draußen anfangen willst. Die Stadt ist nicht mehr für
Menschen gemacht. Du wirst ernährt und wirst leben, aber…
Suzy, alles verändert sich. Die Stadt wird sich noch mehr
verändern. Du wirst im Wege sein… aber sie werden dir nicht
weh tun. Wenn du es so willst, werden sie dich wie einen Nationalpark
unter Schutz stellen.«
»Komm mit mir, Kenny! Du und Howard und Mama! Wir
könnten zurückgehen…«
»Brooklyn existiert nicht mehr.«
»Mein Gott, du bist wie ein Geist oder was. Ich kann nicht
vernünftig mit dir reden.«
Kenny zeigte zum Aufzug. »Sämling…«
»Hör auf, mich so zu nennen, verdammt! Ich bin deine
Schwester, du Gruselgespenst! Ihr wollt mich da draußen einfach
allein lassen…«
»Das ist deine Wahl, Suzy«, sagte Kenneth.
»Oder mich zu einer Gliederpuppe machen.«
»Du weißt, daß wir keine Gliederpuppen sind,
Suzy. Du fühltest, wie sie sind, was sie für dich tun
können.«
»Aber ich würde nicht mehr ich sein!«
»Hör auf zu jammern! Wir alle verändern
uns.«
»Nicht so!«
Kenneth sah geschmerzt aus. »Als kleines Mädchen warst
du nicht so. Hattest du jemals Angst, erwachsen zu werden?«
Sie starrte ihn an. »Ich bin immer noch ein kleines
Mädchen«, sagte sie. »Ich bin langsam. Alle sagen
das.«
»Hattest du jemals Angst, aus dem Kindesalter herauszukommen?
Das ist der Unterschied. Wir haben diese Angst nicht und konnten uns
weiterentwickeln. Du könntest auch erwachsen werden.«
»Nein«, sagte Suzy und wandte sich vom Aufzug weg.
»Ich gehe zurück und spreche mit Mama.«
Kenny hielt sie am Arm zurück. »Sie sind nicht mehr
da«, sagte er. »Es ist sehr anstrengend, so wiedererbaut zu
sein.«
Suzy starrte ihn mit offenem Mund an, dann sprang sie in den
Aufzug und drückte sich gegen die Rückwand.
»Fährst du mit mir hinunter?«
»Nein. Ich gehe zurück. Wir lieben dich noch immer,
Sämling. Wir werden über dich wachen. Du wirst mehr
Mütter und Brüder und Freunde haben, als du jemals wissen
wirst. Und vielleicht wirst du uns einmal bei dir
aufnehmen.«
»Du meinst, in mich aufnehmen, wie die anderen?«
Kenneth nickte. »Wir werden immer in der Nähe sein. Aber
wir werden unsere Körper nicht für dich
wiedererbauen.«
»Ich möchte jetzt nach unten«, sagte sie.
»Also abwärts«, sagte Kenneth. Die Aufzugtüren
begannen sich zu schließen. »Leb wohl, Suzy! Sei
vorsichtig!«
»Kennnnethhh!« Aber die Tür schloß sich, und
der Aufzug sank abwärts. Sie stand da und fuhr sich mit den
Fingern durch das lange, strähnige Blondhaar.
Die Tür öffnete sich.
Das Foyer war ein Geflecht grauer, massiv aussehender Bogen,
welche die Masse des Turmhauses trugen. Sie stellte sich vor –
oder erinnerte sich vielleicht, was sie ihr gezeigt hatten –,
daß der Aufzugschacht und das Restaurant alles waren, was vom
ursprünglichen Gebäude geblieben war, eigens für
sie.
Wohin sollte sie gehen?
Sie betrat den grau und rot gesprenkelten Boden – nicht
Teppich, nicht Beton, sondern etwas leicht Elastisches, wie Kork. Ein
braun und weiß geflecktes Laken – das letzte, was sie von
dieser besonderen Substanz zu Gesicht bekam – glitt über
die Aufzugtür hinab und versiegelte sie mit einem
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