Blutmusik
den Weggang seines Vaters verantwortlich sei, daß
er in der Schule nicht mitkommen würde, Sorge, daß seine
Schulkameraden ihn nicht akzeptieren würden. Und gleichzeitig
Begeisterung. Die schwindelnde, übergroße Freude, die er
empfunden hatte, als er einen Streifen Papier halb gedreht, die Enden
zusammengeklebt und sein erstes Möbiussches Band hergestellt
hatte; seine Ameisenfarm und seine Chemiekästen; seine
Entdeckung von zehn Jahrgängen des Scientific American in
einer Abfalltonne in der Zufahrt hinter dem Haus.
Im Dunkeln, gerade als er am Rand des Schlafes war, begann ihn der
Rücken zu jucken. Er kratzte sich mechanisch, dann setzte er
sich mit einem gemurmelten Fluch im Bett auf, drehte den Saum der
Schlafanzugjacke zu einer Rolle zusammen und zog diese mit beiden
Händen kreuz und quer über den Rücken, um das Jucken
zu lindern.
Als er die Hand zum Gesicht führte, fühlte es sich
völlig unvertraut an, wie das Gesicht eines anderen -Höcker
und Rücken, die Nase verlängert, wulstige Lippen. Doch als
er mit der anderen Hand tastete, fühlte es sich normal an. Er
rieb die Finger beider Hände aneinander. Das Tastempfinden war
nicht richtig. Eine Hand war weitaus sensitiver als gewöhnlich,
die andere beinahe taub.
Schweratmend stolperte er die Treppe hinauf zum Badezimmer und
schaltete das Licht ein. Seine Brust juckte scheußlich.
Zwischen seinen Zehen schien es von unsichtbaren Ameisen zu wimmeln.
Seit er mit elf die Windpocken gehabt hatte, hatte er sich nicht mehr
so elend gefühlt. In der gedankenleeren Konzentration auf seine
Not streifte er den Schlafanzug ab und stellte sich unter die Dusche,
um unter kaltem Wasser Erleichterung zu finden.
Das Wasser spritzte in einem schwachen Strahl aus den alten
Leitungen und rieselte ihm über Kopf und Nacken, Schultern und
Rücken. Dünne Rinnsale schlängelten sich über
Brust und Beine abwärts. Beide Hände waren jetzt
äußerst feinfühlig, und das Wasser schien in Nadeln
zu kommen, erwärmend und dann abkühlend, brennend und dann
erfrierend. Er streckte die Arme aus und hatte das Empfinden, die
Luft selbst fühle sich klumpig an.
Er blieb fünfzehn Minuten lang unter der Dusche stehen,
seufzte vor Erleichterung, als die Reizerscheinungen
nachließen, rieb sich die juckenden Hautpartien mit den
Handgelenken und Handrücken, bis sie gerötet waren. Seine
Finger und Handflächen prickelten, und allmählich
ließ das Prickeln nach und machte einem langsamen, pulsierenden
Pochen wiederkehrender Normalität Platz.
Er trat aus der Dusche und trocknete sich ab, dann stand er nackt
am Badezimmerfenster, fühlte die kühle Brise auf der Haut
und lauschte den Grillen. »Gottverdammich«, sagte er
langsam und ausdrucksvoll. Er wandte sich um und musterte sein
Ebenbild im Badezimmerspiegel. Seine Brust war vom Kratzen und Reiben
fleckig und gerötet. Er drehte sich um und versuchte, über
die Schulter hinweg seinen Rücken zu sehen.
Von den Schultern bis zum Gesäß überzogen
undeutliche blasse Streifen unter der Hautoberfläche wie eine
verrückte und unwillkommene Straßenkarte seinen
Rücken. Während er sie beobachtete, verblichen die Streifen
allmählich, bis er sich fragte, ob sie überhaupt dagewesen
waren.
Mit heftig pochendem Herzen setzte er sich auf den Deckel der
Toilette, stützte das Kinn in beide Hände und starrte auf
seine Füße. Allmählich bekam er es mit der Angst.
Er lachte kehlig glucksend.
»Haben sich die kleinen Teufelsdinger doch ans Werk gemacht,
hm?« murmelte er zu sich selbst.
»Vergil, fehlt dir was?« fragte seine Mutter von der
anderen Seite der Badezimmertür.
»Nein, ich fühle mich gut«, sagte er. Besser und
besser, mit jedem Tag.
»Solange ich lebe und atme, werde ich die Männer nie
verstehen«, sagte seine Mutter und goß sich eine weitere
Tasse vom starken schwarzen Kaffee ein. »Immer herumbasteln,
immer in Schwierigkeiten.«
»Ich bin nicht in Schwierigkeiten, Mutter.« Es
hörte sich nicht überzeugend an, nicht einmal in seinen
eigenen Ohren.
»Nein?«
Er hob die Schultern. »Ich bin gesund, ich kann noch ein paar
Monate ohne Arbeit durchkommen – und etwas muß sich
schließlich finden.«
»Du suchst nicht einmal intensiv.«
Das traf zu. »Ich bin dabei, eine Depression zu
überwinden.« Und das war eine unverfrorene Lüge.
»Dummes Zeug«, sagte seine Mutter. »Du hast in
deinem Leben noch nie unter Depressionen gelitten. Du weißt
nicht mal, was es bedeutet. Du solltest für ein paar
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