Blutmusik
Elektronik
beibringen.« Sie zeigte zum Bildschirm. »Ich würde mir
Mühe geben zu verstehen, wirklich!«
Vergils Mund hing offen. Er klappte ihn zu und schaute zum
Bildschirm, zögerte wie in momentaner Verwirrung.
»Ich habe mich in dich verliebt. Als du fort warst, deine
Mutter zu besuchen. Ist das nicht unheimlich?«
»Candice…«
»Und wenn du etwas wirklich Schlimmes getan hast, dann
verletzt es nicht bloß dich, sondern auch mich.« Sie trat
einen Schritt zurück, die Faust unter dem Kinn, als wollte sie
sich selbst schlagen.
»Ich möchte niemand verletzen«, sagte Vergil.
»Ich weiß. Du bist nicht böse.«
»Ich würde dir alles erklären, wenn ich selbst
wüßte, was geschieht. Aber ich weiß es nicht. Ich
habe nichts getan, wofür man mich ins Gefängnis stecken
könnte. Nichts Illegales.« Abgesehen von der Manipulation
seiner Personalakte.
»Du kannst mir nicht erzählen, daß alles in
Ordnung sei. Etwas bedrückt dich, plagt dich. Warum können
wir nicht einfach darüber reden?« Sie zog einen Faltstuhl
aus dem Schrank und klappte ihn ein paar Schritte vom Schreibtisch
entfernt auf und ließ sich darauf nieder, die Knie
zusammengepreßt, die Füße auseinander.
»Ich sagte gerade, ich weiß nicht, was es
ist.«
»Hast du… dir selbst etwas getan? Ich meine, hast du dir
im Labor eine Krankheit geholt, oder was? Ich hörte, das sei
möglich. Ärzte und Wissenschaftler arbeiten mit Krankheiten
und stecken sich manchmal an.«
»Du und meine Mutter«, sagte er kopfschüttelnd.
»Wir machen uns Sorgen. Werde ich deine Mutter einmal
kennenlernen?«
»In nächster Zeit wahrscheinlich nicht.«
»Es tut mir leid…« Sie schüttelte energisch
den Kopf. »Ich wollte bloß offen mit dir reden.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte er.
»Ja?«
»Liebst du mich?«
»Ja«, sagte er und überraschte sich selbst damit,
daß es sein Ernst war, wenn er den Blick auch nicht vom
Bildschirm wandte.
»Warum?«
»Weil wir einander so ähnlich sind«, sagte er. Er
war sich keineswegs darüber im klaren, wie er das meinte;
vielleicht war ihnen beiden bestimmt, Versager zu sein, oder es
jedenfalls nicht zu weit zu bringen – für Vergil war es das
gleiche wie Versagen.
»Komm schon!«
»Wirklich. Vielleicht siehst du es bloß
nicht.«
»Ich bin nicht so klug wie du, das ist sicher.«
»Manchmal ist es eine Qual, klug zu sein«, sagte er. Und
er fragte sich, ob seine kleinen Lymphozyten vielleicht gerade dabei
waren, dies herauszufinden: die Qual, klug zu sein, zu
überleben…
»Können wir heute ein bißchen hinausfahren,
irgendwohin, und ein Picknick machen? Von gestern abend ist noch
kaltes Huhn da.«
Er notierte eine letzte Zahlenkolonne und begriff, daß er
jetzt wußte, was er hatte wissen wollen. Die Lymphozyten
konnten ihre Biologik an andere Zelltypen weitergeben. Also waren sie
für die physiologischen Veränderungen verantwortlich, die
er festgestellt hatte.
»Ja«, sagte er. »Ein Picknick wäre
großartig.«
»Und dann, wenn wir zurückkommen… mit
Beleuchtung?«
»Warum nicht?« Früher oder später würde
sie es erfahren. Und er konnte sich zur Erklärung der
Streifenmuster etwas ausdenken. Die Schwielen waren
zurückgegangen, seit er mit der Lampenbestrahlung begonnen
hatte. Er dankte Gott für kleine Vergünstigungen.
»Ich liebe dich«, sagte sie, noch immer auf dem
Faltstuhl sitzend und ihn anblickend.
Er sammelte die Berechnungen und Niederschriften und schaltete den
Computer aus. »Danke«, sagte er leise.
PROPHASE
Oktober-Dezember
9
Irvine, Kalifornien
Zwei Jahre waren vergangen, seit Edward Milligan Vergil zuletzt
gesehen hatte. Edwards Erinnerung hatte kaum etwas mit dem
gebräunten, lächelnden und gut gekleideten Herrn zu tun,
der vor ihm stand. Sie hatten am Tag zuvor eine telefonische
Verabredung zum Mittagessen getroffen und standen einander jetzt am
Kantineneingang des neuen Medizinischen Zentrums Mount Freedom in
Irvine gegenüber.
»Vergil?« Edward drückte ihm die Hand und ging um
ihn herum, einen Ausdruck übertriebener Verwunderung im Gesicht.
»Bist du es wirklich?«
»Gut, dich wiederzusehen, Edward.« Er erwiderte den
Händedruck kräftig. Er hatte zwanzig bis
fünfundzwanzig Pfund abgenommen, und was blieb, schien besser
proportioniert. Als Medizinstudent war Vergil ein dicklicher junger
Mann mit einem ungebärdigen Haarschopf und vorstehenden
Zähnen gewesen, der im Studentenwohnheim Türdrücker
verkabelt und unter Strom
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