Blutmusik
seine Hände. Das war seine beste
Lösung gewesen, kein Zweifel. »Wir könnten Experimente
durchführen und sehen, wie ihr Stoffwechsel ist und worin er
sich von dem anderer Zellen unterscheidet. Wenn wir eine
Nährlösung isolieren können, von der sie abhängig
sind, könnten wir sie aushungern. Vielleicht würden sogar
Strahlungsbehandlungen…«
»Schadest du ihnen«, sagte Vergil und wandte sich wieder
zu Edward, »so schadest du mir.«
Er stand in der Mitte des Wohnzimmers und hob die Arme seitlich
hoch. Der Bademantel öffnete sich und zeigte Vergils Beine und
Rumpf. Schatten verdunkelte jedes sichtbare Detail. »Ich bin
nicht sicher, ob ich sie loswerden möchte. Sie tun mir nichts
zuleide.«
Edward schluckte seine Enttäuschung hinunter und versuchte,
aufkommende Verärgerung zu unterdrücken, was es nur noch
schlimmer machte. »Woher willst du das wissen?«
Vergil schüttelte den Kopf und hob einen Finger. »Sie
versuchen zu verstehen, was Raum ist. Das fällt ihnen schwer.
Sie unterteilen Entfernungen in Konzentrationen von Chemikalien.
Für sie ist Raum ein Spektrum von
Geschmacksintensitäten.«
»Vergil…«
»Hör zu, denk nach, Edward!« Er sprach in Erregung,
aber ruhig. »Etwas geschieht in mir. Sie sprechen zueinander mit
Proteinen und Nukleinsäuren durch die Flüssigkeiten, durch
Membranen. Sie schneidern etwas – Viren, vielleicht –, um
lange Botschaften oder Persönlichkeitsmerkmale oder Biologik zu
übermitteln. Plasmidähnliche Strukturen. Das leuchtet ein.
Das sind Arbeitsweisen, für die ich sie programmierte.
Vielleicht ist es das, was dein Diagnosegerät Infektion nennt
– all die neuen Informationen in meinem Blut. Geplauder.
Geschmack von anderen Individuen. Gleichen. Übergeordneten.
Untergebenen.«
»Vergil, ich höre zu, aber ich…«
»Dies ist meine Show, Edward. Ich bin ihr Universum. Sie sind
verblüfft von dem neuen Maßstab.« Er setzte sich und
blieb wieder eine Weile still. Edward hockte neben Vergils Sessel,
schob den Ärmel des Bademantels hoch und betrachtete Vergils
Unterarm: Er war kreuz und quer mit weißlichen Streifen
überzogen.
»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte Edward und griff
zum Tischtelefon.
Vergil fuhr auf. »Nein! Ich sagte dir, ich bin nicht krank,
dies ist meine Show. Was könnte man für mich tun? Es
würde ein Farce sein.«
»Was, zum Kuckuck, habe ich dann hier zu suchen?« fragte
Edward, dessen Verärgerung die Oberhand gewann. »Ich kann
nichts tun, ich bin einer der Höhlenmenschen und du kamst zu
mir…«
»Du bist ein Freund«, sagte Vergil und richtete seinen
Blick auf ihn. Edward hatte den entnervenden Verdacht, daß er
nicht nur von Vergil beobachtet wurde. »Ich wollte dich hier
haben, daß du mir Gesellschaft leistest.« Er lachte.
»Aber man kann eigentlich nicht sagen, daß ich allein bin,
nicht wahr?«
»Ich muß Gail anrufen«, sagte Edward und
wählte die Nummer.
»Gail, ja. Aber verrate ihr nichts.«
»O nein. Sei unbesorgt.«
11
Als es Tag wurde, ging Vergil in der Wohnung herum, befingerte
Gegenstände, schaute zu den Fenstern hinaus, und bereitete sich
langsam und methodisch eine Mahlzeit. »Weißt du, ich kann
ihre Gedanken tatsächlich fühlen«, sagte er. Edward
verfolgte das Geschehen aus einem Lehnstuhl im Wohnzimmer,
erschöpft und krank von innerer Anspannung. »Will sagen,
ihr Cytoplasma scheint einen eigenen Willen zu haben. Eine Art
unterbewußtes Leben, gegenläufig zu der Rationalität,
die sie vor so kurzer Zeit erworben haben. Sie hören das
chemische ›Geräusch‹ von Molekülen, die sich im
Innern zusammenfügen und voneinander lösen.«
In der Mitte des Wohnzimmers blieb er stehen und schloß die
Augen, wie um sich besser auf seine inneren Vorgänge
konzentrieren zu können. Sein Bademantel hing offen. Oder er
schlief immer wieder für Minuten, sei es im Stehen, sei es im
Sitzen. Es war auch möglich, dachte Edward, daß er kleine
Anfälle hatte, kurze Anwandlungen von Übelkeit und
Desorientierung. Wer konnte voraussagen, welches Unheil die
Lymphozyten in seinem Gehirn anrichteten?
Vom Küchenanschluß rief Edward wieder Gail an. Sie
bereitete sich auf ihren Arbeitstag vor. Er bat sie, das Krankenhaus
anzurufen und ihnen zu sagen, er sei zu krank, um zur Arbeit zu
kommen.
»Ich soll für dich schwindeln? Das muß was Ernstes
sein. Was ist mit Vergil? Kann er sich selbst nicht
trockenlegen?«
Edward sagte nichts.
»Alles in Ordnung?« fragte sie nach einer langen
Pause.
War es
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