Blutmusik
nicht, daß sie die höheren Ebenen der
Hierarchie überzeugt haben.«
»Sie diskutieren und streiten?«
»So ähnlich.« Er zog den Bademantel wieder an,
stand auf und spähte durch die Gardinen aus dem Fenster, als
erwarte er jemand. »Ich habe nur noch sie. Sie haben keine
Angst. Edward, ich habe mich noch nie jemandem oder etwas so nahe
gefühlt.« Wieder das selige Lächeln. »Ich bin
verantwortlich für sie. Mutter für sie alle. Weißt
du, bis vor ein paar Tagen hatte ich nicht mal einen Namen für
sie. Eine Mutter sollte ihre Sprößlinge beim Namen nennen
können, nicht wahr?«
Edward antwortete nicht.
»Ich habe überall nachgeschlagen, in
Wörterbüchern, wissenschaftlichen Werken, überall.
Dann kam es mir plötzlich in den Sinn. ›Noozyten‹. Von
dem griechischen Wort für Geist, ›noos‹. Noozyten. Klingt irgendwie unheilverkündend, nicht wahr? Ich
sagte es Bernard, und er schien den Namen gut zu
finden…«
Edward hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Du
hast keine Ahnung, was sie tun werden! Du sagst, sie seien wie eine
Zivilisation…«
»Wie tausend Zivilisationen.«
»Ja, und man weiß, was Zivilisationen angerichtet
haben. Kriegführung, die Umwelt…« Er hielt sich an
Strohhalmen fest, versuchte die Panik zu unterdrücken, die seit
seiner Ankunft in ihm gewachsen war. Er besaß nicht die
Kompetenz, mit der Ungeheuerlichkeit dessen, was hier geschah, fertig
zu werden. Und Vergil auch nicht. Vergil war der letzte, den Edward
im Hinblick auf Fragen von großer Tragweite einsichtsvoll und
weise genannt hätte.
»Aber ich bin der einzige, der hier Gefahr läuft«,
sagte Vergil.
»Das weißt du nicht. Gott, Vergil, sieh bloß, was
sie mit dir machen!«
»Ich akzeptiere es«, sagte er stoisch.
Edward schüttelte resignierend den Kopf. »Schön.
Bernard bewegt Genetron, das Labor wieder zu öffnen, du ziehst
ein, wirst ein Versuchskaninchen. Was dann?«
»Sie behandeln mich richtig. Ich bin schon jetzt mehr als der
gute alte Vergil Ulam. Ich bin eine verdammte
Über-Mutter.«
»Über-Wirt, willst du sagen.«
Vergil räumte es mit einem Achselzucken ein.
Edward fühlte eine Beengung seiner Kehle. »Ich kann dir
nicht helfen. Ich kann nicht mit dir sprechen, dich überzeugen,
kann nichts für dich tun. Du bist so dickköpfig wie eh und
je.« Das klang beinahe wohlwollend; wie konnte
»dickköpfig« eine Haltung wie Vergils beschreiben? Er
versuchte, deutlich zu machen, was er meinte, konnte aber nur
stammeln. »Ich muß gehen«, brachte er
schließlich hervor. »Ich kann dir hier nicht
helfen.«
Vergil nickte. »Das glaube ich auch nicht. Es kann nicht
einfach sein.«
»Nein«, sagte Edward und schluckte. Vergil trat auf ihn
zu und schien im Begriff, Edward beide Hände auf die Schultern
zu legen. Edward wich instinktiv zurück.
»Wenigstens hätte ich gern dein Verständnis«,
sagte Vergil und ließ die Arme sinken. »Dies ist die
großartigste Sache, die ich je vollbracht habe.« Sein
Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ich weiß nicht
recht, wie lange ich es noch ertragen kann. Ich weiß nicht, ob
sie mich umbringen werden, oder nicht. Ich glaube, sie werden es
nicht tun. Aber die Anspannung, Edward…«
Edward erreichte rückwärtsgehend die Tür und legte
die Hand auf die Klinke. Vergils Gesicht, vorübergehend
zerquält von Sorge, kehrte zurück zu träumerischer
Glückseligkeit. »He«, sagte er. »Hör nur!
Sie…«
Edward öffnete die Tür, trat hinaus und schloß sie
fest hinter sich. Rasch ging er zum Aufzug und drückte den Knopf
für das Erdgeschoß.
Ein paar Minuten verweilte er in der leeren Eingangshalle,
bemüht, sein stoßweises Atmen zur Ruhe zu bringen. Er
blickte auf die Armbanduhr: neun Uhr früh.
Auf wen würde Vergil hören?
Vergil war zu Bernard gegangen; vielleicht war dieser jetzt der
Angelpunkt, um den sich die ganze Situation drehte. Vergil erweckte
den Anschein, als sei Bernard nicht nur überzeugt, sondern stark
interessiert. Leute von Bernards Rang und Namen drängten die
Vergil Ulams der Welt nicht zu Taten, wenn sie nicht spürten,
daß es ihnen selbst zum Vorteil gereichte. Als Edward die
gläserne Flügeltür aufstieß, beschloß er
einer Vermutung zu folgen.
Vergil lag mitten im Wohnzimmer, die Arme und Beine ausgestreckt,
und lachte. Dann ernüchterte und fragte er sich, welchen
Eindruck er auf Edward gemacht habe, oder auf Bernard, was das
anging. Nicht wichtig, befand er. Wichtig war nur, was innen vorging,
im inneren
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