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Blutmusik

Blutmusik

Titel: Blutmusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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besorgt
waren, nicht bloß wegen Brooklyn, sondern wegen der gesamten
Vereinigten Staaten, bis zu den Grenzen, auch wegen Mexiko und
Kanada. Kurzwellensendungen aus England verbreiteten sich über
die Stille, die »Seuche«, über Flugreisende in
Quarantäne, und über U-Boote und Flugzeuge, die die
Küsten überwachten. Bisher sei noch kein Flugzeug in das
Innere Nordamerikas vorgedrungen, sagte ein sehr distinguiert
klingender britischer Kommentator, aber Satellitenaufnahmen, so
hieß es, zeigten eine gelähmte, vielleicht tote
Nation.
    Ich nicht, dachte Suzy. Gelähmt bedeutet ohne Bewegung.
»Ich werde mich bewegen. Kommt nur mit euren U-Booten und
Flugzeugen und schaut mich an! Ich werde mich bewegen.«
    Am Spätnachmittag schob sie den Einkaufswagen durch die
Straßen. Nebel verhüllte die fernen Türme Manhattans
und ließ nur die blasse Silhouette des World Trade Centers
über weißlich graue Undurchsichtigkeit aufragen. Sie hatte
noch nie so dichten Nebel auf dem East River gesehen.
    Als sie über die Schulter zurückblickte, sah sie
große braune und gelbliche Fetzen wie Segel oder Drachen im
Wind über der Cadman Plaza schweben. Die Williamsburgh-Sparkasse
war in ihrer ganzen Höhe von hundertfünfzig Metern in
braune Laken eingehüllt, wie ein Wolkenkratzer, der als Paket
verschickt werden soll. Sie hielt auf die Brückenrampe zu, als
ihr der Gedanke kam, wie sehr sie einer der mit Plastikbeuteln
behangenen obdachlosen Frauen ähneln mußte.
    Sie hatte immer befürchtet, einmal obdachlos zu werden. Sie
wußte, daß Leute mit Problemen wie den ihren bisweilen
kein Dach über dem Kopf finden konnten und auf den Straßen
lebten.
    Jetzt fürchtete sie das nicht mehr. Alles war anders. Und der
Gedanke weckte ihren Sinn für Humor. Eine Obdachlose in einer
mit braunem Packpapier bedeckten Stadt. Es war sehr lustig, aber sie
war zu müde, um darüber zu lachen.
    Jede Art von Gesellschaft wäre ihr willkommen gewesen –
Obdachlose, Katzen, Vögel. Aber außer den braunen Laken,
die im Wind wehten, bewegte sich nichts.
    Sie schob den Einkaufswagen die Flatbush Avenue hinauf, rastete
auf der Bank einer Bushaltestelle, stand auf und ging weiter. Sie zog
Kenneths dicke Jacke aus der Reisetasche und zog sie über; es
wurde Abend, und die Lufttemperatur sank rasch. »Ich werde jetzt
singen«, sagte sie sich. Ihr Kopf war voll von Rhythmen und
Rockmusik, doch konnte sie keine Melodie finden. Sie zog den
Einkaufswagen Stufe für Stufe zum Fußgängerweg der
Brücke hinauf, wobei der Wagen schwankte und sein Unterbau
über die Stufenkanten scharrte, und bei aller Anstrengung kam
ihr plötzlich eine Melodie in den Sinn, und sie fing an, die
Beatles-Nummer »Michelle« zu summen, eine Aufnahme aus
einer Zeit, als sie noch nicht geboren war. »Michelle, ma
belle«, war der einzige Teil des Textes, an den sie sich
erinnerte, und den sang sie schnaufend zwischen angestrengtem Ein-
und Ausatmen.
    Nebel verhüllte den East River und ergoß sich über
die Schnellstraße. Die Brücke erhob sich über den
Nebel, eine Straße über den Wolken. Mutterseelenallein
schob Suzy ihren Einkaufswagen den mittleren Gehweg entlang,
hörte den Wind und ein unheimliches, tiefes Summen, das von den
vibrierenden Trägerkabeln der Brücke herrühren
mußte.
    Da es keinen Verkehr auf der Brücke gab, hörte sie alle
Arten von Geräuschen, die sie nie zuvor gehört hatte;
metallisches Seufzen, leise und unterdrückt, aber sehr
eindrucksvoll; das dumpfe Summen der armdicken Kabel; den fernen
Gesang des Flusses; die tiefe Stille jenseits davon. Keine
Schiffssirenen, keine Fahrzeuge, kein U-Bahn-Gerumpel. Keine
plappernden, drängenden Menschen. Sie hätte geradesogut
mitten in einer Wildnis sein können.
    »Ein Pionier«, ermahnte sie sich. Dunkelheit lag
überall, nur über New Jersey machte die Sonne mit einem
Streifen gelblichgrünen Lichtes ihr endgültiges Testament.
Der Gehweg über die Brücke war stockfinster. Sie blieb
stehen und kauerte neben dem Einkaufswagen, wickelte Jacke und Mantel
fester um sich, zog Stiefel und Wollsocken an. Mehrere Stunden
saß sie in dumpfer Erstarrung neben dem Einkaufswagen, einen
Fuß zwischen Chassis und Rad geklemmt, um ihn am Davonrollen zu
hindern.
    Die Geräusche des Flusses und der Brücke
veränderten sich. Ihr Nackenhaar prickelte, obwohl sie keinen
wirklichen Grund hatte, erschreckt zu sein. Dennoch glaubte sie zu
spüren, daß etwas vorging, etwas Unbekanntes. Über
ihr schimmerten die Sterne still

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