Blutmusik
und klar, und die Milchstraße
leuchtete herab, völlig unbeeinträchtigt von verschmutzter
Luft und all den Lichtern der Stadt.
Sie stand auf und reckte gähnend die Arme. Zu einem
Gefühl von Furcht und Verlassenheit gesellte sich eine
eigentümliche Hochstimmung. Sie überkletterte die
Absperrung des Fußweges zur Gegenfahrbahn und ging zum Rand der
Brücke. Dort umfaßte sie das Geländer mit
behandschuhten, vor Kälte tauben Fingern und blickte über
den East River zur South Street, dann ließ sie den Blick
hinüber zu den Umrissen der Fährstationen schweifen.
Es war noch lange nicht Morgen, aber vom Fluß schien ein
grüner und bläulicher Schimmer auszugehen, und wenn sie
hinabschaute, war das Wasser voll von Augen und Feuerrädern und
langsamen, gemessenen Ausbrüchen wie von unterseeischem
Feuerwerk, alles funkelnd und schimmernd vor einem kobaltblauen
Leuchten. Es war, als schaute sie auf ungezählte nächtliche
Städte hinab, alle ineinander verschlungen und umeinander
wirbelnd.
Der Fluß war lebendig, von Ufer zu Ufer und weiter als
Governors Island, wo die Obere Bucht zu einer Art Milchstraße
wurde. Der Fluß glomm und schimmerte, und jeder seiner
Bestandteile hatte einen Sinn und einen Zweck; Suzy spürte
es.
Sie erkannte, daß sie wie eine Ameise auf den Straßen
einer großen Stadt war. Sie war die Verständnislose, die
Begrenzte, die Vergängliche und Zerbrechliche. Der Fluß
war unendlich vielfältiger und schöner als die abendliche
Silhouette Manhattans.
»Ich werde das nie verstehen«, sagte sie, riß den
Blick vom Wasser los, schüttelte den Kopf und schaute zu den
dunklen Wolkenkratzern auf.
Einer von ihnen war nicht völlig dunkel. In den obersten
Geschossen vom Südturm des World Trade Centers flackerte
grünlicher Lichtschein. »He«, sagte sie bei sich.
Dieser Lichtschein verwunderte sie mehr als alles andere. Sie
stieß sich vom Geländer ab und kehrte zu ihrem
Einkaufswagen auf dem Fußgängerüberweg zurück.
Alles sehr schön, dachte sie, aber wichtiger war es, nicht zu
erfrieren und in Bewegung zu bleiben, bis der Morgen käme und es
hell genug wäre, bei Tageslicht zu sehen.
»Ich werde nachsehen, was in dem Gebäude ist«,
sagte sie. »Vielleicht ist es jemand wie ich, jemand, der
klüger ist und sich mit Elektrizität auskennt. Morgen
früh werde ich hingehen und nachsehen.«
Kurz darauf stieß sie auf den dunklen Umriß eines
Zeltes, das Straßenarbeiter bei Reparaturarbeiten im
Kabelschacht unter dem Fußweg aufgestellt haben mußten.
Dankbar kroch sie hinein, zog den Einkaufswagen zum Eingang und
kauerte im Windschutz nieder, den Tag abzuwarten. Schlafend oder
wachend, fröstelnd oder still, sie bildete sich ein, sie
könne etwas vernehmen, was jenseits des Hörens lag: den Ton
der Veränderung, der Seuche und des Flusses und der wehenden
Laken, wie ein großer Kirchenchor, dessen Mitglieder die
Münder weit aufgesperrt hatten und Stille sangen.
23
Paulsen-Fuchs zog einen Stuhl zum Zwischenfenster des
Beobachtungsraumes und setzte sich. Bernard beobachtete ihn
schläfrig vom Bett aus. »So früh am Morgen«,
sagte er.
»Es ist Nachmittag. Ihr Zeitgefühl läßt
nach.«
»Ich bin in einer Höhle, oder könnte es geradesogut
sein. Keine Besucher heute?«
Paulsen-Fuchs schüttelte den Kopf, gab aber keine
Erklärung.
»Neuigkeiten?«
»Die Russen sind aus den Vereinten Nationen ausgetreten.
Offenbar sehen sie keinen Vorteil in einer solchen Organisation, wenn
sie die einzige nukleare Supermacht auf Erden sind. Aber vor ihrem
Austritt beantragten sie im Sicherheitsrat eine Erklärung,
daß die Vereinigten Staaten eine Nation ohne Führung und
eine Gefahr für den Rest der Welt sei.«
»Worauf zielt das ab?«
»Ich glaube, sie streben einen Beschluß an, der sie zu
einem Atomschlag ermächtigt.«
»Großer Gott«, sagte Bernard. Er schwang die Beine
aus dem Bett, richtete sich auf und blieb auf der Bettkante sitzen.
Er betrachtete seine Handrücken. Die Schwielen waren etwas
zurückgegangen; die Quarzlampenbestrahlungen brachten wenigstens
kosmetische Besserung. »Wurden Mexiko und Kanada
erwähnt?«
»Bloß die Vereinigten Staaten. Sie wollen dem Leichnam
noch einen Fußtritt versetzen.«
»Und was sagen oder tun alle anderen?«
»Die amerikanischen Streitkräfte in Europa versuchen,
eine Interimsregierung zu bilden. Ein Senator aus Kalifornien, der
sich gerade auf einer Auslandsreise befand, soll zum neuen
Präsidenten gewählt werden. Die
Weitere Kostenlose Bücher