Blutmusik
hatte.
Sie war ziemlich gut im Lesen – langsam, aber sie kannte viele
von den Worten. Die Zeitschriftenseiten mit ihrer Überfülle
von Anzeigen und schmalen Textspalten über Kleider und Kochen
und Familienprobleme waren eine willkommene Anästhesie.
Sie lag auf dem Rücken auf dem Teppichboden, den
Einkaufswagen mit den Lebensmitteln und den leeren Kerzenwagen in der
Nähe, und fragte sich, ob sie jemals verheiratet sein würde
– ob es jemanden zum Heiraten geben würde –, und ob
sie jemals ein Haus haben würde, wo sie einige der
Ratschläge würde anwenden können, die sie jetzt las.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie sich. »Von nun an
werde ich mit Sicherheit eine alte Jungfer bleiben.« Sie war nie
sehr viel mit Jungen ausgegangen, hatte auch ihrem Freund Cary nie
alles gewährt und war mit dem Ruf von der Oberschule abgegangen,
nett und hübsch, aber langweilig zu sein. Manche Leute wie sie
waren abenteuerlustig und versuchten durch allerhand gewagte Dinge
auszugleichen, daß sie nicht allzu helle waren.
»Jedenfalls bin ich immer noch da«, sagte sie zu der
hohen dunklen Decke, »und ich bin immer noch
langweilig.«
Sie trug die Zeitschrift die Stufen hinunter zum Zeitungsstand,
die Kerze in einer Hand, und wählte als nächste
Lektüre eine Nummer des Cosmopolitan aus. Wieder auf der
Ebene des Foyers, schlief sie eine Weile, wachte erschrocken auf, als
ihr die Zeitschrift raschelnd herunterrutschte, und ging von Kerze
und Kerze und löschte sie für den Fall, daß sie den
morgigen Abend wieder in ihrem Schein verbringen wollte. Dann legte
sie sich auf die Seite, Kenneths Jacke als Kopfkissen zusammengelegt,
eine Kerze noch brennend, und dachte an das gewaltige Gebäude
über ihr. Sie konnte sich nicht erinnern, ob die
Zwillingstürme noch immer die höchsten der Welt waren.
Wahrscheinlich nicht. Jeder war wie ein Ozeandampfer, der
aufgerichtet in die Erde gesteckt worden war – aber diese
Türme waren höher als jeder Ozeandampfer lang war,
behaupteten jedenfalls die an Touristen verteilten Prospekte.
Es würde Spaß machen, durch die Ladenstraße zu
bummeln, doch selbst im Halbschlaf wußte sie, was sie
schließlich würde tun müssen. Sie würde die
Treppen bis zur Spitze ersteigen müssen, um herauszubringen, wer
oder was den grünen Lichtschein verursachte, und über New
York hinauszublicken – von diesem Aussichtspunkt würde sie
die ganze Stadt und einen großen Teil der umliegenden
Landschaft sehen können. Sie würde sehen, was geschehen war
und was geschah. Und dort oben mochte der Radioempfänger mehr
Sender empfangen. Außerdem gab es im obersten Geschoß ein
Restaurant, und das bedeutete, mehr Lebensmittel. Außerdem eine
Bar. Sie verspürte ein plötzliches Verlangen, sich zu
betrinken, etwas, was sie bisher nur zweimal versucht hatte.
Einfach würde es nicht sein. Sie wußte, daß sie
für das Ersteigen der Treppen einen Tag oder mehr benötigen
würde.
Nach unbestimmter Zeit schreckte sie aus unruhigem Schlaf hoch.
Etwas in der Nähe hatte ein Geräusch gemacht, ein
quietschendes, gleitendes Scharren. Draußen stand grau und
trübe der Morgen. Auf dem Platz herrschte Bewegung – Dinge
rollten dort herum, wie Staubmäuse unter einem Bett. Sie
zwinkerte und rieb sich die Augen, erhob sich auf die Knie und
blinzelte, um besser zu sehen.
Federleichte Gebilde wie Wagenräder wurden vom Wind über
den Platz getrieben, bald rotierend und mit flatternden Fetzen als
Speichen, bald auf die Seite fallend und wieder hochgerissen. Sie
waren grau und weiß und braun. Manche der zu Boden gefallenen
blieben am Beton und Pflaster kleben, breiteten sich aus und reckten
fußhohe Büschel empor. Als der Tag heller wurde, ergossen
sie sich in großer Zahl über den Platz, wurden vom Wind
gegen die Glaswände getrieben und hafteten dort wie schmierige
Algen, um sich weiter auszubreiten.
An ein Verlassen des Gebäudes war unter diesen Umständen
nicht zu denken. Sie aß einen Riegel Schokolade und schaltete
das Radio ein, um vielleicht den Britischen Sender zu empfangen, den
sie am Vortag gehört hatte. Nach der Feineinstellung
ertönte eine schwache, von Schwund immer wieder unterbrochene
Stimme aus dem Lautsprecher, wie ein Mann, der durch eine Filzmatte
sprach.
»… zu sagen, daß die Weltwirtschaft leiden wird,
ist sicherlich sehr zurückhaltend ausgedrückt. Mit
Nordamerika ist nicht nur einer der größten
Absatzmärkte verloren gegangen, sondern auch die
größte Konzentration von
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