Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutmusik

Blutmusik

Titel: Blutmusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
ihnen nichts anhaben«, sagte er.
»Es gibt bloß uns.«
    Jerry holte dreimal in rascher Folge mit der Spitzhacke aus, und
ein Loch von fast einem Meter Durchmesser brach ein. Die Brüder
sprangen zurück, dann zogen sie sich vorsichtshalber noch einmal
mehrere Schritte zurück. Der Rest des Hügels hielt. Jerry
ließ sich auf alle viere nieder und kroch zum Loch hinauf.
»Kann noch immer nichts sehen«, sagte er. »Geh und hol
die Lampe!«
    Es wurde dunkel, als John mit einer großen, wasserdichten
Batterielampe von ihrem Lastwagen zurückkam. Jerry saß
beim Loch, rauchte eine Zigarette und schnippte die Asche hinein.
»Hab auch ein Seil mitgebracht«, sagte John und warf die
Rolle neben seines Bruders Knie.
    »Wie sieht die Stadt aus?« fragte Jerry.
    »Soviel ich sehen konnte, genauso wie vorher, nur noch mehr
so.«
    »Wird morgen noch was übrig sein?«
    John zuckte die Achseln. »Das, zu dem sie wird, nehme ich
an.«
    »Gut. Da unten ist es dunkel, da macht die Nacht keinen
Unterschied. Du hältst das Seil, ich werde mich mit dem Licht
hinunterlassen…«
    »Kommt nicht in Frage«, sagte John. »Ohne ein Licht
bleibe ich nicht hier oben.«
    »Dann gehst du hinunter.«
    John dachte darüber nach. »Ach was, wir binden das Seil
an einen Wagen und gehen beide hinunter.«
    »Fein«, sagte Jerry. Er lief mit dem Seil zum
nächsten Wagen, knotete es um eine Stoßstange und kam
zurück. Ungefähr zehn Meter Seillänge blieben ihnen,
als er auf dem Hügel anlangte. »Ich zuerst«, sagte
er.
    »Also los!«
    Jerry ließ sich in das Loch hinab. »Licht!«
    John gab ihm die Lampe. Jerrys Kopf verschwand unter dem Rand.
»Es reflektiert«, sagte er. Der Lichtstrahl schoß
gerade hinauf in die feuchte Abendluft und erfaßte Johns
Gesicht, als dieser hinabspähte. Als genug Raum war, ergriff er
das gespannte Seil und folgte seinem Zwillingsbruder in die
Öffnung.
    Ihre Mutter hatte ihnen Geschichten erzählt, die sie von
einer dänisch sprechenden Großmutter gehört hatte und
in denen von solchen Hügeln voller Elfengold, Leichen,
unheimlichem blauen Feuer und Gesang und Dudelsackmusik die Rede
war.
    Er hätte es niemals zugegeben, aber was er wirklich zu sehen
erwartete, waren Zwerge.
    Beide Zwillinge schwitzten, als sie am Boden des hohlen
Hügels standen. Die Luft war hier viel wärmer und feuchter
als draußen. Der Lichtkegel der Lampe durchschnitt einen
süßlich riechenden dichten Nebel. Ihre Stiefel sanken in
eine elastische, dunkelpurpurne Oberfläche, die quietschte, wenn
sie sich bewegten. »Gottverdammich«, sagten sie
gleichzeitig.
    »Was, zum Kuckuck, sollen wir tun, da wir nun schon hier
sind?« fragte John in klagendem Ton.
    »Wir werden Ruth und Loren suchen, und vielleicht
Tricia.« Tricia war in den vergangenen sechs Jahren Jerrys
Freundin gewesen. Er hatte ihre Auflösung nicht gesehen, aber es
lag nahe zu vermuten, daß dies ihr Schicksal gewesen war.
    »Die sind nicht mehr«, sagte John mit leiser, kehliger
Stimme.
    »Und ob sie sind. Sie sind bloß auseinandergenommen und
hier heruntergebracht worden.«
    »Wie, zum Teufel, kommst du auf die Idee?«
    Jerry schüttelte den Kopf. »Entweder das, oder sie sind
tot, wie du sagst. Hast du das Gefühl, daß sie tot
sind?«
    John dachte nach. »Nein«, räumte er ein. Beide
wußten, wie es war, einen Menschen zu verlieren, der ihnen
nahestand. »Vielleicht mache ich mir bloß etwas
vor.«
    »Unsinn«, versetzte Jerry. »Ich weiß,
daß sie nicht tot sind. Und wenn sie nicht tot sind, dann sind
auch alle anderen nicht tot. Und du hast selbst
gesehen…«
    John nickte. Er hatte die mit sich auflösendem Fleisch
gefüllten Kleider gesehen. Er hatte nicht gewußt, was er
tun sollte. Es war vormittags gewesen, und am Abend zuvor waren Ruth
und Loren an etwas erkrankt, was sie für eine Art Grippe
gehalten hatten. Weißliche Streifen auf den Händen und
Gesichtern. Er hatte ihnen gesagt, daß sie am nächsten
Vormittag zum Arzt gehen würden.
    Was in der Zeitspanne zwischen seiner gräßlichen
Entdeckung und Jerrys Ankunft geschehen war, wußte er auch
jetzt noch nicht. Er hatte geschrien oder etwas anderes getan, was
seiner Kehle solch einen Schmerz verursacht hatte, daß er kaum
hatte sprechen können. »Warum sind wir dann nicht auch
betroffen?«
    Jerry klopfte sich auf den Bauch, der Johns an Umfang nicht
nachstand. »Ein zu großer Happen«, sagte er und
wedelte mit der Hand im Nebel. Der Lichtkegel reichte nicht weiter
als ein paar Schritte in jeder Richtung.

Weitere Kostenlose Bücher