Blutmusik
Wirtschaftskapital. Es ist klar,
daß die meisten Menschen sich heutzutage mehr um ihr
unmittelbares Überleben sorgen und sich fragen, ob und wann die
Seuche den Ozean überqueren wird, oder ob sie bereits unter uns
ist und sich Zeit läßt…« –
Störgeräusche verdrängten die schwindende Stimme
für mehrere Minuten. Suzy saß mit gekreuzten Beinen neben
dem Radio und wartete geduldig. Sie verstand nicht viel, aber die
Stimme war tröstlich – »… die Sorge der
Wirtschaftsfachleute gilt jedoch der Zeit nach der Krise.
Vorausgesetzt, sie geht vorüber. Nun, ich denke, es gibt
Anlaß zu begründetem Optimismus. Ein gläubiger Mensch
wird sagen, daß Gott in seiner Weisheit Gründe für
dies alles hat, doch werden sich nicht alle mit solch einer
Erklärung zufriedengeben. Eine drastische Schrumpfung des
Welthandels ist bereits eingetreten, die Investitionsbereitschaft hat
überall einer abwartenden Haltung Platz gemacht. Trotzdem ist
meines Erachtens nicht zwangsläufig mit einer
Weltwirtschaftskrise größten Ausmaßes zu rechnen.
Mit Ausnahme der berühmt gewordenen meteorologischen Station auf
der Insel Afognak gibt es keine Kommunikation aus dem gesamten
nordamerikanischen Raum, und alle Anzeichen deuten darauf hin,
daß Nordamerika als Wirtschaftsfaktor endgültig
ausgefallen ist. Die Finanziers sind tot. Die Vereinigten Staaten
waren immer die große Bastion des privaten Kapitals. Eine
Umorientierung wird zwangsläufig erfolgen. Rußland ist
jetzt die beherrschende Weltmacht, militärisch und über
kurz oder lang vielleicht auch finanziell. Was können wir
erwarten?«
Suzy schaltete das Radio aus. Gewäsch. Sie wollte wissen,
mußte wissen, was mit ihrer Heimat geschehen war.
»Warum?« fragte sie laut. Sie sah die Räder
flatternd und torkelnd über den Platz wehen, sah ihre
Überreste den Beton wie mit dünnem Schleim überziehen.
»Warum bringe ich mich nicht einfach um und mache alledem ein
Ende?« Sie breitete melodramatisch die Arme aus, fing an zu
lachen. Sie lachte, bis es schmerzte, und bekam es mit der Angst, als
sie merkte, daß sie nicht mehr aufhören konnte. Sie hielt
sich mit beiden Händen den Mund zu, lief zu einem Wasserhahn und
trank von dem klaren, gleichmäßig fließenden
Strom.
Was ihr wirklich Angst machte, begriff Suzy jetzt, war der
Gedanke, den Turm zu ersteigen. Würde sie Schlüssel
benötigen? Würde sie halb hinaufkommen und finden,
daß sie nicht weitergehen konnte?
»Ich werde mutig sein«, sagte sie mit einem
Schokoladenriegel im Mund. »Etwas anderes kann ich nicht
sein.«
25
Livermore, Kalifornien
Es war ein normales und gutes Leben gewesen, aus seinem Hinterhof
Einzelteile und Trödel aller Art zu verkaufen, zu Auktionen zu
gehen und dies und das mitzunehmen, seine Tochter aufzuziehen und
stolz auf seine Frau zu sein, die Lehrerin war. Seine
größeren Erwerbungen hatten ihm viel Freude bereitet: eine
Ladung Fliesen der verschiedensten Art, mit der er Badezimmer und
Küche in dem großen alten, weiß gestrichenen Haus
hergerichtet hatte; einen alten englischen Geländewagen;
fünfzehn verschiedene Personen- und Lastwagen, alle blau;
anderthalb Tonnen alte Büromöbel, einschließlich
eines »antiken« hölzernen Aktenschrankes, dessen Wert
sich als höher erwies als der Betrag, den er für die
gesamte Ladung bezahlt hatte.
Das Unheimlichste, was er (seit seiner Eheschließung) je
getan hatte, war die mutige Beschleunigung seiner beginnenden
Kahlköpfigkeit gewesen, indem er sich das lichter werdende Haar
vom Schädel rasiert hatte, weil ihm der Übergangszustand
verhaßt gewesen war. Ruth hatte bei seinem Anblick geweint. Das
war vor zwei Monaten gewesen, und das dünne Haar war inzwischen
nachgewachsen, spärlich und unordentlich und so widerwärtig
wie zuvor.
John Olafsen war gut zurechtgekommen, solange das Leben seinen
normalen Gang genommen hatte. Er hatte Ruth und die
siebenjährige Loren gut gekleidet und genährt. Das Haus
gehörte seit neunzig Jahren seiner Familie, seit es neu gewesen
war. Sie hatten keine großen Ansprüche gestellt.
Er setzte das zerkratzte schwarze Fernglas ab und wischte sich mit
einem roten Halstuch Müdigkeit und Schweiß von den Augen.
Dann setzte er seine Beobachtung fort. Er hatte den Feldstecher auf
das weitläufige Gelände der Lawrence Livermore National
Laboratories und die Sandia Laboratories auf der anderen
Straßenseite gerichtet. Der Geruch von Staub und dürrem
Gras weckte in ihm den Wunsch, sich zu
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