Blutnacht
die weitere Entwicklung informieren, dass ich mich rechtzeitig vor dem Sturm verabschieden kann, um zu vermeiden, dass ich in strafrechtliche Ermittlungen hineingezogen werde.«
»Sie wollen kündigen, Ma’am?«
»Warum nicht, wenn der Fallschirm hinreichend vergoldet ist?«, erwiderte Martin. »Vernon hat davon geredet, beruflich zurückzustecken, und wir beide haben große Lust, häufiger auf Reisen zu gehen. Vielleicht ist das hier ein Werk der Vorsehung. Wenn Sie also mehr über Gordons Charakterfehler wissen wollen, müssen Sie mich ins Bild setzen.«
»Das ist nur recht und billig«, sagte Milo. »Was für Probleme hatten Sie mit Shull?«
»Kleinere Diebstähle, schlampige Spesenabrechnungen, unregelmäßige Anwesenheit als Dozent, schludrige Notengebung«, antwortete Martin. »Seine Lehrveranstaltungen –’ wenn er zu erscheinen geruht – sind grässlich. Diskurse auf niedrigstem Niveau über Popkultur mit schwachsinnigen Leselisten. Alles dreht sich um Gordons momentane Einsichten, und Gordons Aufmerksamkeitsspanne ist äußerst beschränkt.«
»Ein Dilettant«, sagte ich. Shull hatte den Begriff auf Kevin Drummond angewandt.
»Er müsste daran arbeiten, wenn er ein Dilettant sein wollte«, entgegnete Martin. »Gordon verkörpert alles, was ich am zeitgenössischen akademischen Lehrbetrieb verabscheue. Er hält sich für eine Inkarnation der Popkultur. Das Orakel vom Berg, das sein Urteil über die kreative Welt fällt.
Zweifellos weil er sich selbst als Künstler betrachtet, aber kläglich versagt hat.«
Milo richtete sich auf. »Inwiefern?«
»Gordon hält sich für einen Renaissancemenschen. Er malt schreckliche Klecksbilder – Gartenszenen, die vorgeben, impressionistisch zu sein, aber auf einem Kompetenzniveau, das die meisten Mittelschulkinder hinter sich lassen. Kurz nachdem er hier aufgenommen worden war, brachte er mir mehrere Gemälde und bat um eine Einzelausstellung, die vom Fachbereich gesponsert werden sollte.« Sie schnaubte. »Ich habe ihn hingehalten, und er ist zum Dekan gegangen. Selbst Gordons Verbindungen konnten ihm dabei nicht helfen.«
»Renaissancemensch«, sagte Milo. »Was sonst noch?«
»Er spielt sehr schlecht Schlagzeug und Gitarre. Ich weiß das, weil er dauernd von Gigs oder Riffs redet, egal was. Letztes Jahr hat er sich bereit erklärt, auf einer Party zu spielen, die Vernon und ich für die ausgezeichneten Studenten gaben. Diesmal war ich dumm genug zuzustimmen.« Sie verdrehte die Augen. »Und als ob er sich noch nicht genug Selbsttäuschungen hingäbe, behauptet er außerdem, an einem Roman zu arbeiten – irgendein Opus magnum in progress, mit dem er angibt, seitdem ich ihn kenne. Ich hab nie eine Seite des Manuskripts zu Gesicht bekommen.«
»Große Klappe und nichts dahinter«, sagte Milo.
»Der Kerl passt so gut nach Kalifornien«, sagte Martin. »Ohne das Geld der Familie würde er kellnern und Lügengeschichten über sein nächstes großes Vorsprechen erzählen.«
»Sie sagten, er wäre nicht regelmäßig anwesend«, sagte Milo.
»Er ist dauernd auf irgendwelchen Spritztouren unterwegs, die sein Stiefvater finanziert.«
»Was für Spritztouren?«
»Angebliche Forschungsreisen, Symposien, Kongresse. Zusätzlich zu seinen anderen Anmaßungen sieht er sich als Abenteurer, war schon in Asien, Europa, was Sie wollen. Es ist alles Teil dieser Macho-Nummer, die er abzieht – karierte Hemden mit Krawatten, Wanderstiefel, der Arafat-Bart. Er behauptet immer, er würde an einem tief schürfenden Essay arbeiten, aber auch da hat er noch nie irgendwelche Nägel mit Köpfen gemacht.« Sie stach mit einem Finger in die Luft. »In einem gewissen Sinn kann sich die Welt glücklich schätzen, dass er seinen Worten nie Taten folgen lässt. Weil Gordon grauenhaft schreibt. Unzusammenhängend, aufgeblasen, pompös.«
»Faithful Scrivener«, sagte ich.
Ihre Augen weiteten sich. »Sie wissen davon?«
»Wovon weiß ich?«
»Gordon spricht gerne von sich in der dritten Person. Schmückt sich mit einem Haufen widerwärtiger Spitznamen. Der Gordster, der Furchtlose Mr. Shull, Faithful Scrivener.« Sie bleckte die Zähne. »Er ist immer schon ein Witz gewesen. Leider ist er mein persönlicher geschmackloser Witz. Und jetzt sagen Sie mir, dass er jemanden umgebracht hat … und unsere Büros liegen nur wenige Schritte auseinander … das ist beunruhigend. Bin ich in Gefahr?«
»Ich denke nicht, Professor«, erwiderte Milo.
»Wen hat er
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