Blutnebel
massenhaft Zeit verbracht, nach den Aufzeichnungen hier zu schließen.« An jedem der ausnahmslos einzeln angeführten Tage waren Andachten vor Sonnenaufgang und noch einmal nach Einbruch der Dunkelheit verzeichnet. »Die viele Zeit in der Kirche scheint Ashton aber trotzdem nicht gutgetan zu haben.«
»In den Händen der falschen Person kann Gott eine gefährliche Waffe sein.« Dev zuckte nur die Achseln, als sie ihn erstaunt ansah. »Was manche Leute im Lauf der Menschheitsgeschichte im Namen der Religion angerichtet haben, ist ziemlich grauenhaft.«
Da konnte sie nicht widersprechen. Nicht, wenn es immer naheliegender erschien, dass jemand mit einer Art Gotteskomplex Cassie Frost vergewaltigt und ermordet hatte. Ramsey fragte sich, wo Quinn Sanders je einen solchen Mann kennengelernt haben sollte.
Sie gab Dev das Buch zurück und wandte sich erneut der Liste zu, die sie angefertigt hatte. »Es fehlt ein Band.«
»Nein, das sind alle«, entgegnete er, ohne den Kopf von der Seite zu heben, die er gerade studierte. Dabei trug er dieselbe Brille, mit der er auch auf dem Foto auf dem Buchumschlag abgebildet war, nachdem er verlegen zugegeben hatte, dass er sie zum Lesen brauchte. Im Lauf des Abends hatte sie ihm mehr als nur einen verstohlenen Blick zugeworfen. Sie hatte gute Lust, ihm die Kleider vom Leib zu reißen, sobald sie hier fertig waren, und ihm nur diese randlose Brille zu lassen. Bei ihm sah sie richtig sexy aus.
Sie wandte sich erneut ihrer Liste zu und räusperte sich. »Jeder Band wurde von einer anderen Frau geschrieben und enthält die Aktivitäten des Ashton-Clans im Lauf eines Kalenderjahrs. Und ein Jahr fehlt.«
Schließlich hob er den Kopf. »Ich habe Leanne extra gefragt. Sie sagt, das sind alle. Und sie hat schließlich quasi Hausrecht im Museum, seit sie in der Grundschule ist, nachdem Donnelle sich so hingebungsvoll um die Einrichtung kümmert. Sie muss es wissen.«
Nachdem Ramsey durchschaut hatte, wie die Bücher aufgebaut waren, hatte sie jedes vorn aufgeschlagen und sich Namen und behandeltes Jahr notiert. Im Stillen zählte sie die Jahre in chronologischer Ordnung durch.
Als sie fertig war, sah sie zufrieden auf. »Wie ich schon gesagt habe – eines fehlt. 1892. Die Aufzeichnungen reichen von 1882 bis 1898, also haben sie nicht sofort damit angefangen, als Ashton sich hier niedergelassen hat. Es sind insgesamt siebzehn Jahre, und wir haben sechzehn Bücher. Wenn unsere Annahme stimmt und dies alles von Ashtons Frauen geschrieben worden ist, dann muss er sich nach seiner Heirat mit Ruth noch ein paar weitere Frauen angeschafft haben.«
»Liegt ja angesichts seiner Vorgeschichte auch nahe«, stimmte Dev zu. »Wahrscheinlich hat er sogar noch mehr gehabt. Vielleicht hat er immer seinen Lieblingsfrauen die ehrenvolle Aufgabe übertragen, die jährliche Chronik zu verfassen.«
»Und wo ist nun der fehlende Band?«
Sie sahen einander kurz an. »Könnte im Lauf der Jahre verloren gegangen sein. Oder wurde ruiniert.« Dev grinste. »Vielleicht hat jemand ein Bier darübergekippt oder so was.«
»Oder vielleicht wurde er absichtlich zerstört.« Sie überlegte fieberhaft. »Vielleicht hat jemand etwas hineingeschrieben, was Ashton missfallen hat.«
Dev sah sie skeptisch an. »Was sollte das sein – etwa dass sie nicht langweilig genug geschrieben haben? Ich sag dir, über diesem Geseire hab ich mir schon beim ersten Lesen blutige Augen geholt. Und heute Abend ging’s mir nicht besser. Ich kann mir um nichts in der Welt vorstellen, woher die Leute die Kraft genommen haben, den nächsten Tag anzugehen, wenn das hier« – er schlug zur Betonung unsanft auf das Buch vor ihm – »alles war, worauf sie sich freuen konnten.«
»Wann ist Ruth Ashton verschwunden?«
Er überlegte. Dann stand er ohne ein Wort vom Tisch auf, ging an seinen Computerplatz im Nebenzimmer und begann die Notizen zu durchwühlen, die sich dort stapelten. Als er aufhörte, wusste sie, dass er die Antwort gefunden hatte.
»1892.«
In ihrem Kopf wirbelte ein bunter Haufen von Puzzleteilchen durcheinander, die sie erst sortieren musste, ehe sie sprach. »Und was, wenn sie Ashton irgendwie verärgert hat? Vielleicht hat er von den Briefen erfahren, die sie an ihre Eltern geschrieben hat.« Und wie, so überlegte sie zum ersten Mal, war es Ruth überhaupt gelungen, sie in der streng kontrollierten Gemeinschaft zu versenden?
»Das mag der Grund dafür gewesen sein, sie umzubringen, aber nicht dafür, die
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