Blutnebel
Jim Graysons Schmerz schnürte sich ihr Brustkorb zusammen. »Dabei lag sie die ganze Zeit auf dem Teichgrund.«
Das fehlende Jahrbuch hatte in Ashtons Sarkophag gelegen, genau wie Ramsey vermutet hatte. Und als sie den simplen Code geknackt hatten, in dem Ruth es verfasst hatte, erfüllte sie neue Bewunderung für die Frau, die vor über einem Jahrhundert versucht hatte, Ashton aufzuhalten. Zumindest hatte sie versucht, für die Nachwelt zu fixieren, was der Mann gewesen war. Doch ihre Bemühungen hatten nur wenige Monate angehalten, bis sie ertappt worden war. Bis sie Ashtons nächstes Opfer geworden war.
»Sie werden nicht alle Leichen intakt vorfinden«, bemerkte Raiker. »Es wird ohnehin schwierig genug werden, sie zu bergen. Ich habe Fleming schon hierherbeordert. Schwer zu sagen, wie lange sie brauchen wird, um sämtliche Knochen zu identifizieren und sie der richtigen Leiche zuzuordnen.«
Ramsey nickte. Caitlin Fleming war eine Kollegin, eine forensische Anthropologin und Ermittlerin zugleich. Ramsey nahm sich vor, sie zu fragen, ob fast ein Jahrhundert im Teich die Überreste von Ashtons Opfern zwangsläufig restlos zerstört hatte. Ruth hatte die Namen der getöteten Sektenmitglieder notiert. Die Daten. Und die »Sünden«, aufgrund deren sie zum Tode verurteilt worden waren.
Das ursprüngliche Jahrbuch war im Lauf der Generationen um eine Auflistung der Geopferten ergänzt worden. Doch Ramsey bezweifelte, dass sich die Namen aller Getöteten hier finden ließen.
»Es werden zwangsläufig etliche Überraschungen aus dem Teich nach oben kommen«, fügte sie hinzu. »Anscheinend waren an Cassie Frosts Ermordung alle Gruppenmitglieder beteiligt. Aber Rollins hat angedeutet, dass er nach ihr noch jemanden getötet hat, und dieses Opfer wurde nicht registriert. Er ist garantiert nicht das erste Sektenmitglied, das es nicht erwarten kann, bis die anderen aus der Sekte ihre nächste Wahl treffen. Sie haben Gefallen daran gefunden. Haben die Vergewaltigung genossen. Hatten auch gegen den Mord nichts einzuwenden. Und wenn man erst einmal Blut geleckt hat …«
»Es ist ein regelrechter Machtrausch«, stimmte Raiker zu. »Rollins wäre nicht der erste Sektenälteste, der sich gegen die eigenen Leute wendet, wenn ihn das Verlangen überkommt.«
Dev stand am Waldrand hinter dem Teich. Es hatte den Anschein, als führte er Selbstgespräche. Doch im nächsten Moment sah Ramsey ein Karohemd aufblitzen und begriff, dass er nach Ezra T. geschaut hatte, der das Geschehen von weiter weg beobachtete.
Da fiel ihr wieder ein, was der junge Mann gesagt hatte, als sie sich das erste Mal gesehen hatten. Sie hatte gefragt, was er am Teich beobachtet habe, und er hatte geantwortet, er habe die Cops gesehen. Sie hatte daraus geschlossen, dass er die Polizisten meinte, die den Tatort untersuchten. Doch nachdem sie gehört hatte, wie er von Rollins im Wald angeschossen und lebensgefährlich verletzt liegen gelassen worden war, fragte sie sich, ob er in der Nacht, als der Mord geschah, den Sheriff oder Stratton gesehen hatte. Und sie womöglich erkannt hatte.
Auf jeden Fall verdankte sie Ezra T. ihr Leben. Nach dem, was er Dev vor ein paar Tagen erzählt hatte, war er es gewesen, der das Ammoniak entfernt hatte, das Rollins im Wald deponiert hatte. Ezra T.s Motive interessierten sie allerdings weniger als die Tatsache, dass er ihr dadurch die nötige Zeit für die Flucht verschafft hatte.
»Soweit ich gehört habe, haben Sie die Beweisaufnahme im Tunnel schon abgeschlossen.«
Sie zuckte zusammen und wandte sich wieder Raiker zu. »Jonesy hat Blut von achtzehn verschiedenen Opfern identifiziert. Die Unterlagen weisen auf fast drei Dutzend seit Ruths Zeit hin. Hoffentlich kann Caitlin eine Übereinstimmung zwischen dem Blut und den Überresten aus dem Teich finden.«
Der besagte Tunnel war eine der grausigsten Stätten, die sie je gesehen hatte. Er endete auf Rose Thorntons Grundstück, genau unterhalb der Stelle, wo den alten Unterlagen zufolge Ashtons himmlische Kapelle gestanden hatte. Ein Eingang war geschickt im Waldboden verborgen, nur wenige Meter hinter dem Grundstück zwischen den ersten Bäumen. Eine weitere enge Passage führte zu Ashtons Grabstätte auf dem Friedhof. Als sie den Deckel des Sarkophags abgehoben hatten, hatten sie keine Überreste des Gründervaters der Stadt gefunden. Der Boden des Sarkophags hatte den Stufen weichen müssen, die zu der Passage führten.
»Ihre Arbeit hier ist erledigt, Clark.
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