Im Rausch dieser Nacht
1. KAPITEL
Hätte sie an diesem Morgen den Blick in eine Kristallkugel werfen und sehen können, was ihr bevorstand, wäre Sherri Masterson sicherlich im Bett geblieben. Da ihr der Blick in die Zukunft jedoch verwehrt blieb, stellte sie ahnungslos ihren Wecker ab, stieg aus den Federn und begann ihren Tag wie an jedem anderen Morgen. Während sie unter der Dusche stand, lief die Kaffeemaschine. Und nachdem Sherri sich angezogen hatte, setzte sie sich in die Küche und trank ihren Morgenkaffee.
Wie üblich aß sie einen Toast zum Frühstück und blätterte dabei die Morgenzeitung durch, bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. Sie liebte ihren Job als Texterin. Sie war in einem Unternehmen angestellt, das Software für Endverbraucher entwickelte, und ihre Aufgabe war es, die Anzeigentexte, Gebrauchsanweisungen und Handbücher der neuen Produkte in eine für den Laien verständliche Sprache zu übertragen. Bereits seit drei Jahren arbeitete sie für die Firma New Ideas Inc. in Austin, Texas.
Es war Freitag. Draußen herrschte das schönste Maiwetter. Jeder im Büro war mit seinen Gedanken schon im Wochenende, und auf den Korridoren und in den Büros sprach man darüber, was man sich für die kostbare freie Zeit vorgenommen hatte. Für Sherri waren die Wochenenden kein Thema. Sie sahen bei ihr fast immer gleich aus: Einkäufe erledigen, ein paar Sachen zur Reinigung bringen, Wäsche waschen, aufräumen. Am Samstagabend machte sie es sich meistens mit ihrer Katze Lucifer auf dem Sofa bequem und sah sich einen Film an, den es im Fernsehen gab oder den sie sich aus der Videothek geholt hatte.
Sherri war mit ihrem Leben vollauf zufrieden. An Verabredungen hatte sie kein Interesse. Anfangs hatte es mit ihrer Mitbewohnerin Joan, einer Lehrerin, Diskussionen gegeben, weil Joan sich einfach nicht vorstellen mochte, wie man so seine Freizeit verbringen konnte. Es war sicher gut gemeint gewesen, als sie versucht hatte, Sherri mit einem ihrer Kollegen oder dem Freund eines Freundes zu verkuppeln. Aber Sherri stand der Sinn ganz und gar nicht nach einer Affäre. Was war davon schon zu erwarten? Wieder ein gebrochenes Herz, wieder der Katzenjammer, dann die qualvolle Zeit danach, bis die Narben halbwegs verheilt waren.
Das hatte sie alles hinter sich. Zur Genüge. Es schien Sherris Los zu sein, gerade die Menschen zu verlieren, die sie am meisten liebte, und sie hatte ihre Konsequenzen daraus gezogen. Ganz egal, was einem die Romantiker vorgaukelten, war es besser, für sich zu bleiben und niemanden zu nah an sich herankommen zu lassen. Dann konnte man auch nicht so brutal verletzt werden, wie sie es schon mehrmals erlebt hatte.
Im Alter von nicht einmal vierzehn Jahren hatte sie den ersten schweren Schicksalsschlag hinnehmen müssen. Drei Wochen vor ihrem Geburtstag erreichte sie die Nachricht, dass ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Ihre Mom und ihr Dad waren nach Griechenland gereist und hatten sie solange bei ihrer Tante Melanie einquartiert. Es war der erste Urlaub, den die beiden ohne ihre Tochter unternommen hatten. Tante Melanie hatte ihre Eltern noch damit aufgezogen, dass die beiden wohl die Flitterwochen nachholen wollten.
Jeden Tag hatte Sherri mit ihrer Mom telefoniert, und als die Urlaubszeit sich dem Ende neigte, hatte Sherri sich wie eine Schneekönigin darauf gefreut, ihre Eltern wieder in die Arme schließen zu dürfen. Sie war so gespannt auf die Fotos gewesen und darauf, was die Eltern ihr mitbringen würden.
Als Tante Melanie dem Mädchen von dem Unglück berichtete, konnte Sherri es nicht glauben. Noch am Tag zuvor hatte sie mit ihrer Mutter gesprochen. Es musste sich um einen Irrtum handeln, eine Lüge. Dann sah Sherri die Fernsehnachrichten, die Bilder in der Zeitung, und nach und nach wurde ihr klar, dass es die bittere Wahrheit war.
An den Trauergottesdienst hatte Sherri nur bruchstückhafte Erinnerungen. Sie wusste noch, wie die beste Freundin ihrer Mutter den Arm um sie gelegt und ununterbrochen geweint hatte, während sie, selbst fassungslos und unfähig, auch nur eine Träne zu vergießen, dastand. Sie hatte das Bild noch vor sich, wie Tante Melanie die gerahmten Fotos ihrer Eltern auf die Kommode stellte. Der Chef ihres Dads hatte die Tante und sie wissen lassen, dass sie sich finanziell keine Sorgen zu machen brauchten. Sherris Vater hatte eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen. Aber was für ein Trost war das?
Die Reaktion brach erst später aus Sherri
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