Blutnebel
nicht im Geringsten ihren wahren Gefühlen entsprach, lehnte sich Ramsey gegen die offene Autotür. Sie würde ins Wageninnere hechten, falls die Frau ihre Drohung wahr machte.
Sie war wasserstoffblond und etwa eins siebenundsechzig groß und hätte mit ihren Gesichtsfalten und Zahnlücken um die fünfzig sein können. Doch die Hände, mit denen sie das Gewehr umfasste, waren glatt, und die Figur in ärmellosem Top und Jeans war jugendlich. Ramsey hätte gewettet, dass sie mindestens zwanzig Jahre jünger war. Eine Crystal-Meth-Konsumentin, dem Aussehen nach zu schließen. Ramseys Blick wanderte an der Frau vorbei zu der Tür, die sie hatte offen stehen lassen.
»Mein Name ist Ramsey Clark, und ich arbeite fürs Tennessee Bureau of Investigation an den Ermittlungen über den Mord, der vor ein paar Tagen in dem Wald hinter Ihrem Haus passiert ist.«
»Mir egal, wer Sie sin’«, entgegnete die Frau mit schwerem Südstaatenakzent. »Ich hab nix zu sagen, und Sie verschwinden jetzt hier, bevor ich schieße.« Sie hob die Schrotflinte bedrohlich an. »Ich hab ’ne Patrone drin.«
Hinten aus dem Haus ertönte eine Männerstimme. »Jetzt wimmel sie schon ab und schieb deinen Hintern wieder hier rein, Mary.«
Aus einem spontanen Impuls heraus lächelte Ramsey die Frau an und machte Anstalten, wieder ins Auto zu steigen. »Kein Problem. Dann fahr ich eben kurz zurück in die Stadt und besorge einen Hausdurchsuchungsbefehl.« Beim Einsteigen ließ sie sich Zeit.
Die Frau – Mary – sah unentschlossen drein. Mit einem Blick nach hinten senkte sie das Gewehr, legte es sich auf den Arm und kam die Stufen herunter und auf den Wagen zu.
Ramsey spannte die Muskeln an. Sie ließ die Autotür offen, fasste jedoch mit einer Hand unter die Jacke und löste die Halterung an ihrem Halfter, ehe sie die Finger um den Griff der Waffe schloss, um sie im Notfall ziehen zu können. In solchen Augenblicken war sie froh über Raikers Beharren darauf, dass seine Mitarbeiter in jedem Staat, wo sie arbeiteten, für die Dauer der jeweiligen Ermittlungen eine Lizenz bekamen, um verdeckt eine Schusswaffe tragen zu dürfen.
»Jetzt mal langsam.« Mary rang sich ein Lächeln ab, das klaffende Lücken zeigte, wo eigentlich Zähne sein sollten. »Is’ doch nich’ nötig, zweimal hier rauszufahren, oder? Eigentlich lohnt sich schon das eine Mal nich’. Wir können Ihnen nix über die Nacht sagen. Ham weder was gehört noch gesehen.«
Praktisch. »Es geht um den fünften Juni, gegen zehn Uhr abends.« Die Frau schüttelte den Kopf. Quälende Frustration machte sich in Ramsey breit. »Warten Sie. Ich glaube, es war der sechste.«
Mary erstarrte mitten im Kopfschütteln. Sie hatte die Falle erkannt, doch dann begann sie erneut den Kopf zu schütteln, diesmal noch heftiger. »Wir kümmern uns um unsern eigenen Kram und erwarten das auch von allen andern. Zwischen hier und Ashton’s Pond gibt es nix als Bäume. Was glauben Sie, was wir da sehen können?«
Ramseys Hand an der Waffe entspannte sich ein wenig. Mary hielt die Schrotflinte jetzt in beiden Armen an sich gedrückt, ohne sich darum zu kümmern, dass sie geladen war – wie sie zuvor behauptet hatte. Solange das Ding nicht auf sie zielte, kümmerte es Ramsey ebenfalls nicht.
»Genau das möchte ich eben wissen.«
»Wir ham nix gehört.« Sie spuckte die Worte förmlich aus, während ihr halbherziger Versuch, freundlich zu sein, verpuffte. »Und gesehen ham wir auch nix. Wir sind hier ganz allein, und so gefällt’s uns auch am besten.«
»Was ist mit Duane?« Ramsey ließ den Blick zum Haus schweifen. »Vielleicht hat er was gesehen.«
»Hat er nich’. Er arbeitet in der dritten Schicht in der Fabrik drüben in Clayton. Er war nich’ mal hier.«
Doch Ramsey hörte gar nicht mehr hin. In den Bäumen hinter dem Haus hatte sie eine Bewegung wahrgenommen. »Ist jemand da draußen im Wald?« Sie zeigte in die Richtung. »Ich habe gesehen, wie sich etwas bewegt hat.«
Die Frau blickte sich hastig um. »Ich seh nix«, sagte sie, ihre Worte ein ironisches Echo ihrer früheren Erklärung. »Wahrscheinlich ein Reh.«
»Das Reh hatte aber eine Latzhose und ein kariertes Hemd an«, sagte Ramsey trocken. »Ist das Duane?«
»Er ist drinnen. Sie ham ihn doch vorhin rufen hören, oder?«
Ramsey wandte sich wieder der Frau zu. »Wohnt sonst noch jemand bei Ihnen?«
»Wir ham keine Kinder, Duane und ich. Vielleicht irgendwann mal.«
Ramsey hoffte inständig, dass sie keine bekämen. Sie
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