Blutnetz
nehmen, niedergeschlagen.«
Bell entblößte seine gleichmäßigen schneeweißen Zähne zu einem amüsierten Grinsen. »Ich denke, er hätte sich bestimmt freiwillig ergeben, wenn sie nicht versucht hätten, ihn durch die Mangel zu drehen.« Er wandte sich wieder an Dorothy Langner, diesmal jedoch um einiges sanfter. »Nun, Miss Langner, da gibt es etwas, das ich Ihnen zeigen muss.«
Er holte eine Fotografie hervor, die noch feucht vom Entwicklungsbad war. Es war eine Vergrößerung von Langners Abschiedsbrief. Bell hatte ihn mit einer 3A-Kodak-Balgenkamera aufgenommen, die seine Verlobte - sie war im Filmgeschäft tätig - ihm gegeben hatte. Bell deckte den größten Teil der Fotografie mit einer Hand ab, um Miss Langner die Lektüre des ziemlich konfusen Textes zu ersparen.
»Ist das die Handschrift Ihres Vaters?«
Sie zögerte, betrachtete das Foto eingehender und nickte dann zögernd. »Es sieht aus wie seine Handschrift.«
Bell beobachtete sie aufmerksam. »Sie sind sich offenbar nicht sicher.«
»Sie sieht nur ein wenig ... ich weiß nicht! Ja, es ist seine Handschrift.«
»Soweit ich weiß, stand Ihr Vater unter großem Druck, die Produktion zu beschleunigen. Kollegen, die ihn bewunderten, geben zu, dass er unter einer hohen Belastung gelitten habe, die er vielleicht nicht mehr ertrug.«
»Unsinn!«, widersprach sie heftig. »Mein Vater goss keine Kirchenglocken. Er leitete eine Waffenfabrik. Er war es, der auf das Tempo drängte. Und wenn es ihm zu viel gewesen wäre, hätte ich es als Erste erfahren. Seit dem Tod meiner Mutter hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel.«
»Aber das Tragische an einem Selbstmord ist doch«, ergriff Van Dorn das Wort, »dass das Opfer keinen anderen Ausweg sieht als eine Flucht aus dem Unerträglichen. Es ist immer ein einsamer Tod.«
»Er hätte sein Leben niemals auf diese Art und Weise beendet.«
»Warum nicht?«, fragte Bell.
Dorothy Langner hielt für einen Moment inne, ehe sie antwortete. Dabei wurde ihr durchaus bewusst, dass der große Detektiv ungewöhnlich attraktiv wirkte und unter seinem eleganten Äußeren eine urwüchsige Kraft zu schlummern schien. Dies war eine Mischung, die sie bei den Männern suchte, jedoch nur höchst selten antraf.
»Ich habe ihm das Klavier gekauft, damit er seiner geliebten Musik wieder frönen konnte. Er liebte mich viel zu sehr, um mit Hilfe dieses Instruments aus dem Leben zu scheiden.«
Isaac Bell blickte in ihre beschwörenden silberblauen Augen, während sie ihren Standpunkt vehement vertrat. »Vater war mit seiner Arbeit viel zu glücklich, um sterben zu wollen. Vor vierzig Jahren hat er damit begonnen, britische Vier-Zoll-Geschütze nachzubauen. Heute stellt seine Fabrik die besten Zwölf-Zöller der Welt her. Geschütze, die auf zwanzigtausend Yards genau treffen. Das sind zehn Meilen, Mr Bell!«
Bell achtete auf jede Veränderung in ihrem Tonfall, die auf mögliche Zweifel hinweisen konnte. Er suchte in ihrem Gesicht nach verräterischen Anzeichen von Unsicherheit in ihrer geradezu lyrischen Beschreibung der Arbeit des Verstorbenen.
»Je größer das Geschütz, desto gewaltiger ist die Kraft, die es bändigen muss. Es gibt keinen Spielraum für Irrtümer oder Fehler. Der Durchmesser darf auch nicht um einen Tausendstelmillimeter schwanken. Züge einzuarbeiten erfordert die Kunstfertigkeit eines Michelangelo; die Rohrseele mit dem Mantelrohr zu umhüllen die Präzision eines Uhrmachers. Mein Vater liebte seine Geschütze - alle der am Bau eines Linienschiffgeschützes Beteiligten lieben ihre Arbeit. Ein Fachmann für Dampfantriebe wie Alasdair Mac- Donald liebt seine Turbinen. Ronnie Wheeler oben in Newport liebt seine Torpedos. Farley Kent seine immer schnelleren Schiffsrümpfe. Es macht große Freunde, sich einer Sache mit Haut und Haar zu verschreiben, Mr Bell, und all seine Energie hineinzustecken. Solche Männer begehen keinen Selbstmord.«
Joseph Van Dorn schaltete sich abermals ein. »Ich kann Ihnen versichern, dass Isaac Bell seine Ermittlungen so gründlich wie irgend möglich ...«
»Aber«, unterbrach Bell den Chef der Agency, »was ist, wenn Miss Langner recht hat?«
Sein Boss starrte ihn verblüfft an.
Bell sagte: »Mit Mr Van Dorns Erlaubnis werde ich weitere Ermittlungen anstellen.«
Hoffnung hellte Dorothy Langners reizendes Gesicht auf. Sie wandte sich zu dem Gründer der Privatdetektei um. Van Dorn spreizte die Hände. »Natürlich. Isaac Bell wird sich sofort mit voller Unterstützung der
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