Blutorangen
sie, wo sie waren, und alles, was sich machen, ist ruhig sein und rauchen. Oder sie schreien. Manchmal schreien sie. Sie sagen, daß ich nicht das Recht hätte, sie wie Kinder zu behandeln oder so etwas.«
Ich nickte und wußte, daß es wichtig für sie war, mir darüber zu erzählen. Ich warf einen Blick auf das Fenster nebenan, einen Laden, in dem man Dinge kaufen konnte, die man dann selbst in schrecklichen Farben bemalt. Hasen, mit türkisfarbenen Band um den Hals, standen in einer Ecke; ihre glänzenden, harten Augen waren auf uns gerichtet, und vor ihnen saß ein gestreiftes Eichhörnchen mit einem Weihnachtsglöckchen an seinem Schwanz, das aussah, als ob es weglaufen wollte.
Ich sagte: »Demnach ist Annie heute nicht hier?«
»Ich muß leider sagen, daß sie letzten Freitag verschwunden ist. Ich glaube, sie mochte es nicht, wenn sie das Haus pflegen sollte«, sagte sie und lächelte zum ersten Mal. »Sie hatte schon über einen Monat Küchendienst gehabt, aber nur weil eine sich eine schlimme Hautentzündung zugezogen hat und ihre Hände nicht ins Wasser oder in Spülhandschuhe stecken konnte, und alle anderen Frauen schon dran gewesen waren. Sie hatte sich einen Monat vorher herausmanövriert, deshalb habe ich sie darauf festgenagelt. Das ist doch nur fair oder nicht?«
Darüber wollte ich nicht reden. »Wie sieht sie aus?« fragte ich.
»Oh, sie ist ziemlich dick. Ihre Haare geben nichts mehr her, weil sie sie so oft gefärbt hat. Sie ist... lassen Sie mich überlegen ... ungefähr fünfundfünfzig Jahre alt. Ja. Sie hat am sechsten August Geburtstag. Sie können hereinkommen und in die Akten schauen, wenn sie möchten.«
Sie nickte über ihre Schulter und auf dem Gang hinter ihr sah ich eine Frau — eigentlich mehr eine Silhouette — über den Gang gehen, dann anhalten und uns anschauen. Sie hatte zwei Löcher, wo die Augen sind, einen kurzen Nasenrücken und das Kinn mit der Form einer Muschel. Sie ging weiter, als ich hereinkam, und dann hörte man Gelächter aus dem Zimmer, das sie betreten hatte. Ich hörte andere Frauenstimmen und roch einen intensiven Geruch, wahrscheinlich eine Flasche Parfüm, ein Weihnachtsgeschenk.
Carolyn führte mich in ein Wartezimmer, einen Sonnenraum wie meine Mutter es nannte, als wir für kurze Zeit in Nordkalifornien lebten. Eigentlich hätte man aber auf eine weite Fläche Berglorbeeren und Salbei blicken müssen, und nicht auf eine düstere Hollywoodstraße.
Ich saß auf einer braunen Couch und sah mir die Philodendronranke an, die von einem grünen Plastiktopf über dem Fenster baumelte, deren Wurzeln sich durch den Boden drückten. Unter meinen Füßen befand sich ein verblichener indianischer Teppich mit Fransen an den Enden. Ein Spanholztischchen stand vor mir.
Was Carolyn mir brachte, war nur halb zu gebrauchen. Sie gab mir eine Mappe und sagte, sie sei gleich zurück.
Dieses Mal war Annie zwei Monate dort gewesen. Drei Jahre vorher war sie sechs Wochen da gewesen. Zweimal vorher landete sie fast in einem Heim: einmal in Oklahoma City 1972 und einmal in Reno 1983. Das waren alles freiwillige Informationen gewesen, die sie in ihrer eigenen Handschrift gemacht hatte. Nach den gedruckten Worten: WELCHE MITTEL WURDEN EINGENOMMEN? hatte sie »Alkohol und Speedballs« geschrieben.
Carolyn kam mit einem Tablett voll Kaffee und Zimtröllchen zurück. »Nehmen sie reichlich, ich bin froh, Gesellschaft zu haben«, sagte sie fast flüsternd. Dann setzte sie sich neben mich und beugte ihren Kopf über die Akte.
Ich sagte: »Es sieht so aus, als ob sie schon länger Probleme hat.«
»Sie schließt sich Sauftouren an. « Carolyn biß in ihr Zimtröllchen und aß, während sie sprach. »Ich glaube, daß es für Typen wie Annie schwerer ist. Sie können Jahre ohne einen Drink auskommen, aber wenn sie einen trinken, dann hängen sie wieder drin«, sagte sie. » Annie hielt sich selbst nicht für abhängig.« Carolyn zog eine Augenbraue hoch. »Daran arbeiteten wir gerade.«
»Sie hat aber Speedballs aufgeschrieben,« sagte ich.
»Was ist das nochmal? Ich habe Schwierigkeiten, das alles auseinanderzuhalten.« Ihr Gesicht zog sich zusammen. In einem anderen Leben hätten wir über Kinder, Eltern-Lehrer-Vereinigungen und Ehemänner, die uns nicht anerkennen, sprechen können.
»Kokain und Heroin gekocht. Wie hat sich Annie mit den anderen Frauen verstanden? Wie kam sie klar?«
»Sie sagte ein- oder zweimal, andere Frauen hätten ihre Sachen genommen. Sagen sie,
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