Schlangenblut (German Edition)
KAPITEL 1
Freitag, 14.18 Uhr
Prüfend strich sie sich mit der Spitze ihres Daumennagels über die Zunge. Nicht scharf genug. Noch nicht.
Während Ashley am Rand des Nagels knabberte und das Knirschen von Hornsubstanz und Zahnschmelz genoss, stützte sie sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor. Abgesehen von dem Alten hinter der Theke, der ihr einen reichlich perversen Blick zuwarf, war das Tastee Treet leer.
Es war ein typischer Hot-Dog-Schuppen. Der schäbige, billig eingerichtete Essbereich wartete darauf, nach den Freitagabendspielen von kreischenden Cheerleaderinnen und prahlerischen Footballspielern überschwemmt zu werden. Aus einem Melamin-Radio im Stil der Fünfziger hinter dem Tresen drang, untermalt vom Brutzeln der Friteuse, ein Song, der noch älter war als Ashleys Eltern und von der gefährlichen Liebe zu flotten Autos und flotten Jungs handelte.
Keine Spur von Bobby. Unwillkürlich drehte sie sich zu dem gekiesten Parkplatz um, obwohl sie wusste, dass sein Auto durch die Plexiglasfenster und Sperrholzwände nicht zu überhören sein würde. Sie konnte es kaum erwarten, dass er endlich kam – er war so unglaublich attraktiv, und, mein Gott, diese Augen, sie blickten ihr geradewegs in die Seele. Würde sie ihm auch gefallen, jetzt, da sie sich zum ersten Mal persönlich trafen?
Oder würde er enttäuscht sein? Sie zu jung finden? Zu unreif? Besorgt führte sie einen Finger an den Mund. Nein . Über diese scheußliche Angewohnheit war sie hinweg. So etwas hatte in ihrem Leben keinen Platz mehr. Nicht nachdem sie mit Bobby abgehauen war.
Sie sah auf ihre Armbanduhr, bevor sie sie abnahm, um sie über den Pfefferstreuer aus Chrom und Glas zu schieben. Die Uhr, das letzte Überbleibsel aus ihrer Vergangenheit, hatte ihr gute Dienste geleistet. Selbst nach drei verschiedenen Bussen und einem knappen Kilometer Fußmarsch war Ashley immer noch zehn Minuten zu früh.
Unterwegs hatte sie sich zunehmend in einen Zustand der Euphorie gesteigert, während sie ihre Besitztümer Stück um Stück von sich warf wie die geliebten, grässlichen Schlangen ihres Vaters ihre Haut – ganz so, als bestünde ihr altes Leben aus vierzehn Jahren schuppiger, pergamentdünner Erinnerungen, denen sie entwachsen war und die sie nun abschüttelte, um sie zu Staub zerfallen und vom Wind wegtragen zu lassen.
»Möchten Sie vielleicht etwas bestellen, junge Frau?«, schreckte der Typ hinter dem Tresen sie auf. Sein Gesicht lag im Schatten einer tief heruntergezogenen Mütze der Pittsburgh Steelers. Schon seit sie hereingekommen war, hatte sie seinen starrenden Blick gespürt.
In der von Fritten und Burgern fettgeschwängerten Luft drehte sich ihr beinahe der Magen um, doch das ignorierte sie. Sie durfte nicht die Selbstbeherrschung verlieren. »Nein, ich warte nur auf jemanden.«
Selbstbeherrschung. Sie rückte die Uhr zurecht, bis sie genau in der Mitte des Pfefferstreuers war, wischte ein paar Pfefferteilchen weg und versuchte, ihre Angst zu verdrängen. Vergeblich.
Sie ließ von der Uhr ab und legte die Hände flach auf die Tischplatte. Ihr Atem ging schwer. Wenn Bobby sie nun hässlich fand? Wenn sie ihm nicht gefiel? Wenn …
Sie drehte die linke Handfläche nach oben und bohrte sich den rechten Daumennagel in die nackte Haut des Handgelenks.
Aaah … Erleichtert seufzte sie auf, als sie den roten Striemen sah, die winzigen roten Tröpfchen, die schnurgerade Linie.
Während sie auf ihr Blut starrte, bekam sie allmählich wieder Luft.
Ihre Zunge schob sich zwischen Zähne und Lippen, überwältigt vom Drang, das Blut zu schmecken. Nur dieses eine Mal. Sie würde damit aufhören, sobald sie mit Bobby zusammen war. Versprochen.
Sie bog das Handgelenk und zwang einen weiteren kleinen roten Punkt an die Oberfläche. So leuchtend, so nass.
Sie hielt das Handgelenk vollkommen ruhig und ignorierte das Zucken unter ihrer Haut, das sich anfühlte wie greifbare Elektrizität. Ihr Magen verkrampfte sich vor freudiger Erwartung, während jeder ihrer Herzschläge die roten Blüten erzittern ließ.
Noch nicht … noch nicht. Sie hatte alles im Griff.
Ashley hob den Blick. Der alte Knacker hinter dem Tresen starrte sie noch immer an. Idiot. Er musste so alt sein wie ihr Vater. Vollidiot. Sie warf ihm einen tödlichen Blick zu. Er zuckte zusammen und schaute weg. Lustmolch.
Bobby musste jeden Augenblick hier sein. Die Freiheit war fast schon in Reichweite. Sie war so ein braves Mädchen gewesen, hatte
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