Blutrote Sehnsucht
Onkel glaubte doch wohl nicht, dass Van Helsing sich mit einer Ehe ohne eheliche Beziehungen zufriedengeben würde! Morgen würde sie mit ihrem Onkel reden und dafür sorgen, dass er ihren Cousin wegschickte, ob das nun von guten Manieren zeugte oder nicht.
Ann rang nach Atem, als sie plötzlich merkte, dass sie keuchte. Sie fühlte sich auf einmal völlig außer Kontrolle, so verrückt , wie sie von jedermann gehalten wurde. Dagegen gab es nur ein Mittel, und das war Ruhe.
Sie ergriff ein wollenes Umschlagetuch und eine Kerze und trat vor den reich verzierten Kamin. Langsam ließ sie ihre Hand über die kunstvolle Schnitzerei an dem Holzpaneel auf der rechten Seite gleiten, worauf es leise klickte und sich lautlos öffnete. Ann atmete schon etwas leichter, als sie die Dunkelheit dahinter sah. Hier war das Gegenmittel gegen das fürchterliche Abendessen und Van Helsings Gespräch mit ihrem Onkel. Geduckt betrat sie den düsteren Gang, den sie so gut kannte. Auf Zehenspitzen schlich sie die alte Steintreppe hinunter und achtete darauf, weder die Wände des schmalen Ganges noch die Eingänge zu verschiedenen anderen Räumen Maitlands’, an denen sie vorbeikam, zu berühren. Niemand benutzte diesen Gang noch, und niemand außer ihr wusste davon. Schließlich ebnete sich der Boden, und ein steinerner Rundbogen mit einem ausgezackten Muster romanischen Stils kennzeichnete das Ende des Tunnels.
Ann trat in die schier grenzenlose Steinkrypta hinaus, die sich unter der ursprünglichen Abtei befand. Der Geruch von altem Gestein, feuchter Erde und dem Staub von Jahrhunderten hüllte sie ein. Ihre kleine Kerze vermochte die Dunkelheit kaum zu durchdringen. Die nächstgelegenen Rundbögen, die die Decke stützten, erhoben sich direkt vor ihr. Schon als kleines Mädchen hatte sie jede Ecke dieses verborgenen Heiligtums erforscht. Daher wusste sie, dass ihr Licht, wenn es weit genug reichte, die steinernen Särge mit in den Deckel geschnitzten Ahnenfiguren offenbaren würde, die die Mauern säumten, und auch die Seitenkapellen, in denen die Wände eingebrochen waren und dicke Brocken feuchten Lehms den Fußboden bedeckten. Mehrere große Kamine befanden sich an den Wänden. Ann hatte keine Ahnung, ob sie sich zum Heizen dort befanden oder einmal einem unheilvolleren Zweck gedient haben mochten. In den beiden kleinen, intakt gebliebenen Kapellen standen Altäre und reich verzierte Becken zum Einsalben der Toten. Doch nichts hier konnte ihr Angst einjagen.
Dies war ihr geheimer Zufluchtsort. Die bei der Einnahme durch Heinrich VIII. zerstörten Bögen der Abtei über ihr waren gotisch, weil sie jüngeren Datums als die Krypta waren. Die Mauern, die oben noch standen, waren immer noch mit dem Teil von Maitlands Abbey verbunden, der bewohnt war wie zur stummen Erinnerung daran, dass alles auf dieser Erde vergänglich war. Die Brockweirs hatten es nicht nötig, eine gotische Narretei auf dem Besitz zu errichten, um Schwermut und Gedanken an die Vergänglichkeit der Zeit heraufzubeschwören. Das Gebäude hatte seine eigenen Ruinen. Der unversehrte Teil war viele Male verändert und das gotische Gemäuer komfortabler gestaltet worden von nachfolgenden Generationen, die die Krypta unter den Ruinen mit der Zeit vergaßen. Ann hatte sie nur des versteckten Ganges wegen gefunden.
Ihre Schritte hallten durch den großen Raum, als sie zu der Treppe hinüberging, die zu einem weiteren schmalen Tunnel führte. Nun kroch sie unter dem Boskettgarten auf den verwilderteren Teil des Besitzes zu. Nach einer kleinen Ewigkeit, wie es ihr schien, sah sie die Stufen, die zu der Steintür in dem Monument hinaufführten, das sich hinter den gepflegten Gärten auf der anderen Seite der Wiese und dicht am Wald erhob. Sie stieg die Stufen hinauf und drückte gegen die Tür, die nicht einmal in den Angeln quietschte und sich so mühelos öffnete, als wäre sie neu und nicht mehrere Hundert Jahre alt. Ann trat in die Nacht hinaus. Die Sterne strahlten heller nach dem Regen, und zwischen all den anderen Konstellationen konnte sie klar die Milchstraße erkennen.
Ruhe. Wie konnte man keine Ruhe angesichts solch unerschütterlicher Grenzenlosigkeit verspüren? Ann blickte sich zu den leblosen steinernen Männern in langen Roben um, die über ihr aufragten. Waren sie Priester? Die Inschrift auf dem Denkmal war von der Zeit und den Elementen schon lange ausgelöscht worden. Die Tür zu dem Geheimgang befand sich im Sockel ihrer Statuen. Sie verstanden
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