Blutrote Sehnsucht
Grenzenlosigkeit. Aber Ann streckte nicht die Hand aus, um sie zu berühren, weil die Skulpturen von menschlichen Händen geschaffen worden waren und sie keine fremden Erinnerungen in sich heraufbeschwören wollte.
Stattdessen wandte sie sich dem Wald zu und stieg die Anhöhe zu der Schlucht hinauf. Sie war voller Bäume und Steine, die noch nie berührt worden waren. Bäume bewahrten nur den Verlauf der Jahreszeiten in sich, die gelegentlichen Erschütterungen durch Sturm oder Feuer, doch keine Emotion, keinen Verrat, keinen Kummer oder Ärger. Ann glaubte, eine gewisse ... Befriedigung in Bäumen zu verspüren, eine fast unmerkliche Freude an ihrem Dasein und ihrem Wachstum. Aber ihr Lieblingsplatz lag höher oben, verborgen zwischen dem Gestein über dem Fluss. Ein steinerner Zufluchtsort, denn das Gestein von Höhlen war sogar noch ruhiger als Bäume.
Mit entschlossenen Schritten durchquerte Ann den Wald.
Auch Stephan schritt durch den Wald hinter der Ortschaft auf die Schlucht zu, die wie ein glatter Schnitt durch die Mendip Hills verlief. Sie waren eigentlich mehr als Hügel, und die Straße, die dem Verlauf der Schlucht folgte, stieg steil an. Das Beste war, sich von der Straße fernzuhalten, soweit es möglich war, und deshalb schlug er den Weg zwischen den Bäumen hindurch ein. Anders als zu Hause in Transsylvanien bestand der Wald hier aus Laub- und Nadelbäumen. Es war eine fast stockdunkle Nacht, kein Mond stand am Himmel, und Schatten aus tiefem und noch tieferem Schwarz waren das Einzige, was auf das Vorhandensein von Bäumen und Felsen hinwies. Aber Stephan bewegte sich mit sicheren Schritten durch das Labyrinth, denn die Nacht war seine Zeit. Die Luft hier war erfüllt vom Geruch verfaulender Blätter und von dem frischen, würzigeren von Tannennadeln.
Der Pferdeknecht hatte gesagt, die Hügel seien voller Höhlen, die meisten allerdings ohne Zugang von der Außenseite. Das klang nicht sehr vielversprechend. Aber es gab auch eine größere Höhle, die vor langer Zeit entdeckt worden war, mit vielen Abzweigungen und Nebengängen. Dort wollte Stephan beginnen. Mit grimmiger Entschlossenheit bahnte er sich einen Weg durchs Unterholz und versuchte, nicht an die grausige Aufgabe zu denken, die vor ihm lag. Sie war der Preis. Der Preis, den er so schnell wie möglich zahlen wollte, um seine Vergehen wiedergutzumachen. Asharti war sein Fehler, ihre Verbrechen konnte er nur sich selbst anlasten. Vielleicht hätte er sie zum Guten bekehren können, wenn seine Liebe zu Beatrix nicht gewesen wäre.
Beatrix ... Eine Zeit lang hatte er gedacht, sie erwidere seine tiefen Gefühle, und hatte begonnen, das Leben als mehr als nur eine endlose Serie ermüdender Begegnungen mit menschlicher Gier und Grausamkeit zu sehen. Er hatte festgestellt, dass die Welt noch Möglichkeiten bot, wenn er sie durch Beatrix’ junge Augen sah. Aber dann kam die Stunde der Erkenntnis ...
Burg Sincai,
in den Bergen Transsylvaniens,
1105
In der Dunkelheit des Stalles, zwischen den Tieren überall um ihn herum, öffnete Stephan die Augen, als Beatrix auf ihn zukam. Der angenehme Geruch frisch gemähten Heus vermischte sich mit dem kräftigeren von Pferden – und einem Hauch des moschusartigen Duftes ihrer leidenschaftlichen Umarmungen in dem Stall. Als er sich aufsetzte, rutschte ihm die Decke bis zur Taille herunter und entblößte seine nackte Brust. Wann hatte Beatrix ihn allein gelassen? Er musste in einen erschöpften Schlaf gefallen sein. Sein Magen verkrampfte sich vor Kummer. Beatrix dachte, er empfände keine Liebe für sie, weil er versucht hatte, auch Asharti zu lieben. Und Asharti hasste ihn, weil sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass er nur Beatrix liebte. Dass er nun auch mit Beatrix schlief, hatte ihren Schmerz nicht mildern können.
Es gab keinen vernünftigen Ausweg aus diesem verworrenen Experiment, auf das er sich eingelassen hatte, und nun würde Beatrix ihn verlassen. Asharti auch. Bei ihr kümmerte es ihn herzlich wenig, doch Beatrix lag ihm eben sehr am Herzen. Er blickte in ihre dunklen, unschuldigen Augen, die Schmerz, aber auch Entschlossenheit verrieten.
Und da kam sie ihm – die Erkenntnis, die mit ätzender Tinte die Geschichte einer öden, leeren Zukunft in sein Herz schrieb: Beatrix würde ganz gewiss fortgehen. Sie war unschuldig und naiv genug, um ihn zu lieben, da ihre Sicht der Welt begrenzt war und er ihre Vorstellungen von Liebe erfüllen konnte. Doch die erste Liebe war fast nie von
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