Blutrotes Wasser
nicht.
»Für einen Selbstmörder«, hatte Janosch gegrinst, »hast du wirklich erstaunlich viel Schiss.« Und vielleicht lag dieser merkwürdige Typ ja gar nicht so falsch. Lázlo hatte Angst. Nicht vor dem Tod, o nein, das wäre spannend genug, falls es denn den Tunnel, das Licht und den ganzen Scheiß wirklich gab. Wenn nicht, war’s auch egal, dann ging eben einfach nur das Licht aus wie bei einer verflackerten Kerze. Nicht schlimm der Tod. Aber … das Sterben schon. Und dann klebte da dieser Rest Hoffnung an ihm, ein kleiner Krümel, der Lázlo in die andere Richtung gezerrt hatte, weg vom Fenster, hinein in sein winziges Zimmer. Diese leise Stimme kannte er aus einem der deutschen Bücher seines Großvaters: »Etwas Besseres als den Tod findest du überall.« Die Bremer Stadtmusikanten, ein Märchen. Etwas Besseres als den Tod. Und wenn nicht, nun, der Tod war schließlich ein geduldiger Geselle, der hetzte einen nicht, der ließ einem Zeit. Und wartete. Der Tod wartete auf Lázlo, und zögernd machte er den Schritt zurück, stieß das Fenster zu und spürte Tränen.
Etwas Besseres als den Tod, ja. Warum sollte Lázlo also nicht dieser Schwarzen Armee, der geheimnisvollen Bruderschaft Janoschs, einen Besuch abstatten? Etwas Besseres. Schon wahr – schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr kommen.
Lázlo schob sich an Nachtschwärmern und an kleinen Buden vorbei, die Wein und Wurst verkauften. Ein Sommerfest, das ihm früher sogar Spaß gemacht hatte, damals, als sein Vater noch lebte und seine Mutter mehr war als eine Räuchermännchen-Puppe vor dem Fernseher. Rechts drängte sich die protzige Nationalgalerie Ungarns in den Himmel, auch sie in sanft gelbem Licht leuchtend. Noch ein paar Schritte mehr, dann stand Lázlo endlich am Reiterbild Prinz Eugens. Er fummelte sein Handy aus der Jeans. Dreißig Minuten vor Mitternacht – er war eine halbe Stunde zu spät. Und von Janosch natürlich keine Spur mehr. Auch egal. Lázlo schaute zu Prinz Eugen hinauf. Das Reiterdenkmal war so hoch wie ein kleines Haus, er musste den Kopf weit in den Nacken legen, um den Bronzemann auf seinem Pferd richtig zu sehen. Eugen von Savoyen schien mehr zu fliegen als zu reiten. Der große Feldherr im Kampf gegen die Türken, Held Ungarns, blablabla. Auch nur so ein Arsch. Als Lázlo klein gewesen war, hatte er ihn gerne angeschaut. Hatte sich vorgestellt, dass man auch für ihn einmal ein Denkmal aufstellen würde, irgendwann, eine Statue für …
»Lázlo? Bist du Lázlo?«
Er fuhr herum und musterte den Fragesteller: ein schmächtiger Hänfling, höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt.
»Und du? Müsstest du nicht schon im Bett sein?«, fragte er.
»Witzig.« Der Junge lächelte müde. »Janosch hat gesagt, ich soll auf dich warten.«
»Wie lange denn?«
»Bis du da bist.«
Die beiden schwiegen und musterten sich, erkannten in ihren Augen ähnliche Gefühle, ähnliche Qual. Lázlo räusperte sich. »Wie heißt du?«, fragte er schließlich.
»Kannst mich nennen wie die anderen.«
»Und das wäre?«
»Frosch.«
Lázlo grinste. Aber bevor er einen blöden Kommentar abgeben konnte, sagte der Hänfling »Komm mit«, drehte sich um und marschierte los in die Nacht.
Lázlo zögerte nicht: Etwas Besseres als den Tod fand er überall.
23.31 Uhr, Polizeipräsidium, Teve utca
Hauptkommissar Frenyczek gähnte. Der Tag war lang gewesen und die nächsten würden nicht kürzer sein – bis diese Angelegenheit erledigt war, musste Kaffee den Schlaf ersetzen. Der Ermittler rieb sich die Augen, um dann erneut auf seinen Computerbildschirm zu starren. Er scrollte durch die magere Akte, die er über diesen österreichischen Naturwissenschaftler zusammengestellt hatte. Emil Meinrad. Immerhin schien der ganz in Ordnung zu sein, kein Angeber aus Wien, kein Wir-blicken-vom-Westen-auf-den-Osten-herab-Typ, sondern ein freundlicher, ruhiger Mann. Meinrads Tochter dagegen schien quirliger, auf die musste man bestimmt aufpassen. Frenyczek dachte an seine eigenen Kinder, die waren in dem Alter genauso lebhaft, kaum zu bändigen und wundervoll gewesen. Aufpassen, ja, das musste man. Er schüttelte den Kopf und rief ein anderes Dokument auf.
»Ungarn muss frei atmen. Ungarn muss die Ketten abwerfen, die es seit Jahrhunderten trägt. Ungarn muss kämpfen, muss töten. Es wird Zeit, die Bäder der Reichen zu vergiften. Gellért war nur ein Test. Fürchtet ein atmendes Ungarn. Fürchtet die Krönung eines neuen Königs.
F. S.«
Frenyczek
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