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Blutrotes Wasser

Blutrotes Wasser

Titel: Blutrotes Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Torsten Krueger
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dieser Klang, ein Flüstern und Brüllen zugleich – die Stimme schmeichelte sanft und dröhnte dennoch von den Bunkerwänden zurück. Lázlo brauchte eine Weile, bevor er auf die Lösung kam: Der Typ nutzte elektronische Verstärkung, musste ein bescheuertes Headset am Kopf oder ein Mikro am Kragen tragen.
    Was für eine Show!
    »Armes Ungarn«, flüsterte und brüllte der Maskenmann. »Waren wir je ein Volk, das sich selbstbestimmen konnte? Nie. Waren wir je ein Land, das in Freiheit und Selbstbestimmung leben durfte? Nein. Ihr wisst, was mit uns geschehen ist?«
    »Wir haben vergessen«, skandierte die aufgepeitschte Menge wie ein Mann.
    »Ja, meine Söhne. Wir haben vergessen. Die Herrschaft der Türken, was ist sie heute für uns? Eine glorreiche Vergangenheit. Die Herrschaft der Österreicher? Ein verklärter Glanz, der Tanz von Kaiserin Sissi. Die russische Unterdrückung nach dem Zweiten Weltkrieg? Ost-Nostalgie, denn damals war alles viel besser. Was ist, meine Treuen, mit uns geschehen?«
    »Wir haben vergessen!«
    In die Stille nach diesem hundertstimmigen Schrei schlug das Lachen des Mannes wie eine Ohrfeige. Ein trauriges, wissendes Lachen.
    »Wir haben vergessen, ja. Ungarn ist stolz auf seine Thermalbäder. Auf ein Parlamentsgebäude, das London kopiert. Auf seine Zigeunermusik beim Essen. Nichts eigenes ist uns geblieben, meine Söhne. Nichts von unserer Vergangenheit. Nichts von unserer Freiheit und unserem Leben.«
    Lázlo fühlte sich merkwürdig, fast wie im Fieber. Er war hin- und hergerissen: Eigentlich wollte er immer noch nur so schnell wie möglich raus aus dieser dunklen, fackelumwaberten Höhle und fort von den durchgeknallten Irren. Aber je länger er dieser schmeichelnden, aufrüttelnden Stimme lauschte, desto mehr wollte er hören. Der Mann hatte ja eigentlich recht. Denn was machte die Nation Ungarn schon aus, was blieb übrig, wenn man die weltbekannten Thermalbäder, die Kaffeehäuser und die Zigeunermusik abzog? Was blieb schon übrig für Europa, für den Rest der Welt? Die schöne blaue Donau? Zwischen Abscheu und Faszination schwankend lauschte Lázlo den radikalen Parolen dieses Mannes, der sich selbst Holló nannte: der Rabe.
    Voller Traurigkeit breitete der vor ihnen die Geschichte Ungarns aus: »Seit dem 13. Jahrhhundert haben hier Fremde geherrscht. 1241 strömten Mongolen ins Land und metzelten die Hälfte der Bevölkerung nieder. Im 14. Jahrhundert kamen die Türken und schenkten uns«, wieder dieses unheimliche und traurige Lachen, »ihre Thermalbäder. 145 Jahre dauerte es, bis Buda endlich wieder in unsere Hände fiel. In unsere? Nein, Brüder. Die Habsburger herrschten, hart und grausam. Und danach? Die gleichberechtigte Doppelmonarchie Österreich-Ungarn! Ha, Marionetten waren wir. 1918 kamen die Bolschewiken nach Ungarn, auch sie schenkten uns etwas: die kommunistische Revolution. Dann brannten die Welten, zwei Mal. Nach dem Krieg, meine Treuen, standen die Sowjets hier oben auf der Burg. Stalin und Kommunismus.«
    Lázlo wurde schwindlig. Der Rauch der Fackeln brachte seine Augen zum Tränen, er spürte die Körper der anderen, roch ihren Schweiß, ihre Hoffnung, ihre Wut. Er wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte. Dass da ein Verrückter in silberner Maske faschistische Reden schwang – oder dass hundert junge Männer, Teenager und Kinder gebannt einer Geschichtsstunde lauschten. In der Schule waren sie bestimmt nie so aufmerksam gewesen.
    Ich muss hier raus, dachte Lázlo noch einmal. Aber wieder zögerte er. Zum einen würden sie ihn nicht gehen lassen. Zum anderen wollte er weiter dieser Stimme lauschen, die nicht nur von der Vergangenheit erzählte. Nein, der Mann in Schwarz, Holló, wandte sich auch der Zukunft zu.
    »Dann, meine Soldaten der Schwarzen Armee, kam das, was die Welt den Ungarnaufstand nennt und die Wende. Der Zusammenbruch der sowjetischen Macht, der Niedergang der DDR, der Aufbruch in eine neue Zeit. Neue Zeit?« Wieder das Lachen, rollend wie eine Welle im Meer. »Nein. Nur wieder andere Herrscher. Westliches Geld, westliche Firmen. Deutsche und Österreicher, die sich auf uns stürzen wie Zecken und sich mit unserem Blut vollsaugen und fett werden, bis sie aufgedunsen und rülpsend abfallen.«
    Holló verstummte. Seine silberne Maske reflektierte das flackernde Licht. Einen Augenblick meinte Lázlo, dass die Augen darunter an ihm haften blieben. Ihn und nur ihn musterten.
    »Nein, meine Söhne«, setzte der Rabe wieder ein. »Die

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