Blutrotes Wasser
gebunden und mit gelbstichigen Blättern: die Sammlung von Nagyapa, seinem Großvater. Die Bücher von seinem deutschen Opa, den Lázlo nie kennengelernt hatte; der es nach dem Zweiten Weltkrieg im faschistischen Deutschland nicht mehr ausgehalten hatte; der sich erst von den neuen Ideen der DDR umarmen ließ, dann aber weiter bis nach Budapest wanderte; der vom Ideal des Sozialismus träumte, bis die russische Realität ihn wachrüttelte. 1956, als sich das ungarische Volk gegen die Unterdrücker wandte, gegen die sowjetische Besatzungsmacht, gegen die kommunistische Diktatur. Ein Aufstand, der in Budapest begonnen hatte und sich aus einer friedlichen Demonstration entwickelte. Mehr als 3000 Tote. Unter ihnen sein Großvater. Manchmal glaubte Lázlo, über seiner Familie läge ein Fluch: 1956 sein Opa, 2006 sein Vater. Und jetzt bin ich dran, dachte er. Seine Finger glitten über die alten Bücher. Lázlo hatte Großvater nie kennengelernt, aber seine Gedanken, seine Träume schon. Fasziniert von den Geschichten, die sein Vater ihm über Opa erzählt, angestachelt von der fremden, deutschen Sprache, zu deren Klang Papa ihn oft genug in den Schlaf gewiegt hatte, griff Lázlo irgendwann nach den alten Büchern. Lernte Deutsch von Goethe, Heine und Hölderlin. Lernte seinen Opa kennen, der jedes Buch kommentiert hatte, nicht nur mit Ausrufezeichen am Rand oder Unterstreichungen, sondern mit langen Kommentaren am Ende vieler Buchseiten. Langsam – über Jahre hinweg – hatte er gelernt, die fremden Wörter zu verstehen.
Lázlo schüttelte sich. Schmerz und Wut loderten erneut in ihm auf. Er trat ans Fenster. Unten lag – immer noch ein bisschen frühlingsgrün und der Sonne trotzend – der Flórián tér, der Floriansplatz, mit ein paar Bäumen und römischen Mauerresten. Ja, wirklich: Direkt neben dem hässlichsten Bau von Budapest, dem Faluház, dem größten Plattenbau Ungarns, 310 Meter lang, elf Stockwerke hoch und von fast 3000 armseligen Budapestern bewohnt, direkt daneben, dachte Lázlo, befanden sich die Säulen und Überreste einer antiken Welt. Ein römisches Großbad hatte man dort ausgegraben, 1500 Jahre alte marmorne Steine und Schätze. Lázlo starrte aus dem Fenster. Starrte acht Stockwerke hinunter.
Hoch genug. Bestimmt.
Direkt an den Floriansplatz grenzte die Vörösvári utca, eine achtspurige Ausfallstraße. Unter ihren Betonpfeilern duckten sich weitere römische Ruinen. Es war total irre. Als Kind hatte Lázlo das alles geliebt: die gewaltigen Autobahnpfeiler, über ihm Beton, beladen mit röhrenden, hupenden Wagen, und darunter römische Säulen und märchenhafte Geschichte. Sie hatten Römer und Sklaven gespielt, Spartacus und Gladiatoren. Und er hatte davon geträumt, Archäologe zu werden, ein ungarischer Indiana Jones.
Lázlo spürte, wie sich die Betonmischmaschine in seinem Herzen wieder zu drehen begann. Er dachte an seinen Vater, seinen Großvater, dachte an den Tod. Er dachte an Irina, die gelacht hatte. An seine Mutter, die vor dem Fernseher saß und sich in jeder freien Minute von Seifenopern berieseln ließ. Seit Papa tot war, lebte sie nur noch von Zigarettenrauch und TV-Herzschmerz. Lázlo spuckte aus dem Fenster. Die Sonne bereitete sich auf ihren täglichen Abgang vor. Er schaute seinem Speichel dabei zu, wie er durch die Luft eierte. Acht Stockwerke tief. Lázlo atmete die schwüle, schmutzige Luft Budapests ein. Lauschte dem dröhnenden Feierabendverkehr der Vörösvári utca. Nein, diesmal keine Rasierklingen. Acht Stockwerke waren definitiv hoch genug.
3
Immer noch Samstag, der 30. Juli
23.00 Uhr, Pension Liszt, V. Bezirk
Lena wippte auf dem Bett herum. Es war zu weich und quietschte. Außerdem hatte selbst die Nacht keine Abkühlung gebracht, sodass sie immer noch schwitzte. Was nun? Gerade hatte sie ihrem Papa Gute Nacht gesagt, spielte jetzt mit der einen Hand an der Fernbedienung für den kleinen Fernseher in der Zimmerecke herum, mit der anderen an ihrem Handy. Was jetzt? Ihren Freunden noch ein paar SMS schicken oder sich durch ungarisches Fernsehen zappen? Lena hatte auf keines von beiden Lust. Quietsch, quietsch, machte die Matratze. Durch das geöffnete Fenster drang lauwarme Sommerluft und ein kratziges Gedudel wie aus einem Transistorradio. Lange nicht mehr gehört so was, dachte Lena. Mann, Mann, Mann, was für ein Tag! Jetzt sind wir also als Spezialagenten unterwegs. Nicht im Geheimdienst Ihrer Majestät, aber im Dienst, na ja, der ungarischen
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