Blutrotes Wasser
sicher? Natürlich. Ihre Zähne waren nicht mehr die besten, ihr linkes Bein schmerzte bei jedem noch so mickrigen Wetterumschwung und vor jeder Rolltreppe bekam ihr alter Körper das Zittern. Aber ihre Augen waren noch fast genauso scharf wie ihre Erinnerungen. Der eine Typ war der Rucksackdieb. Ganz sicher. Und der andere, nun, Herrgott scheiß auf uns herab, das war Lenas Kavalier. Ihr Freund.
18.22, Café Gerbeaud, Vörösmarty tér
Was für ein Scheißtag! Lena nippte bereits an ihrem dritten Sissi-Kaffee – langsam fühlte sie sich ein wenig betrunken. Den ganzen Nachmittag hatte sie hier im Kaffeehaus verbracht, träumend zwischen Plüsch, feinstem Porzellan und Silberbesteck. Nein, nicht träumend. Überlegend, grübelnd, ihr bisschen Hirn zermarternd. Aber auch nach Stunden wusste sie noch nicht, was sie tun sollte. Und solange sie das nicht entschieden hatte, schmetterte sie Lázlos Anrufe gnadenlos ab. Lena seufzte, denn sie konnte es immer noch nicht glauben. Lázlo war bestimmt in nichts Schlimmes verwickelt, er doch nicht, ihr Ritter mit dem Rucksack. Aber diese beiden Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf, dieses mysteriöse F. S., das Ferelel Schekt-Irgendwas. Ihren Vater hätte sie wie nebenbei danach fragen können – aber der hockte schon längst in seinem Büro im Wiener Naturkundemuseum und löschte Organisationsfeuer. Sándor wollte sie dagegen lieber nicht fragen, den Polizisten sowieso nicht, und Professor Radelodz stand auch nicht auf ihrer Liste. Der Professor. Hm, der hatte doch irgendwas erzählt, als sie im Polizeipräsidium zusammengesessen waren. Von einer Söldnertruppe im Mittelalter. Derselbe Name angeblich. Wie war das gewesen, die dunklen Soldaten? Die böse Armee? Nein, oder doch? Die Schwarze Armee, das war’s. F. S.
Lena winkte der Kellnerin, zahlte und fand direkt am Vörösmarty tér, dem Platz vorm Café Gerbeaud, ein Internetcafé. Sie suchte sich eine Webseite, die deutsch-ungarisch übersetzen konnte, und tippte ein: Schwarze Armee. Die Antwort lautete: Fekete Sereg. Sie klickte auf »Anhören« und lauschte. Fekete, wie man’s schrieb, und das S von Sereg zischend wie Sch. Ja, genau das hatte Lázlo gesagt. Oder?
Ein Scheißtag! Jetzt hatte sie sich fast den ganzen Tag die Gehirnzellen zerschossen und wusste immer noch nicht, was sie tun sollte.
Nicht mal Imre Rutschek war im Café aufgetaucht, wie Lena gehofft hatte. Auch mit der Blumenfrau hätte sie gern ein paar Worte gewechselt, aber auch hier: Fehlanzeige. Am besten, sie kehrte zurück in die Pension, zappte sich durch die Kanäle und überschlief die ganze Sache.
Lena verließ das Internetcafé, schlenderte über die Váci utca Richtung Pension und stieß sich an einem Stück Pflasterstein den rechten großen Zeh.
Ein absolut überobertotaler Scheißtag!
21.48 Uhr, Burgberg, Tunnelanlage
Lázlo huschte durch die Gänge. Nervös linste er bei jedem Tunnelknick um die Ecke – er wollte niemandem begegnen. Als er den Korridor erreichte, von dem Hollós Zimmer abging, bewegte er sich noch vorsichtiger und spähte lange: Manchmal stand Janosch vor der Tür wie ein Wächter, der die Bittsteller abwimmelte. Aber der Gang war leer.
Lázlo huschte vorbei und erreichte nach ein paar Schritten die nächste Tür. Dieser Raum wurde als Lagerkammer benutzt: Nahrungsmittel, Wasserkästen, Werkzeuge, eine Trittleiter. Er hielt sein Ohr an die Tür und lauschte – nichts. Drückte die Klinke und wusste nicht, ob er wirklich erleichtert sein sollte, dass nicht abgeschlossen war. Egal. Jetzt würde er sich keinen Rückzieher mehr erlauben. Er schlüpfte in den Raum und zog die Tür wieder zu, tastete nach dem Lichtschalter und blinzelte, als ihm die nackte Glühbirne Licht ins Gesicht warf. Er machte einen Schritt und ließ seinen Blick über die Wände schweifen: Regale und nackter Beton. Von einem Lüftungsschacht keine Spur. Systematisch arbeitete sich Lázlo an den Mauern entlang und zog dreimal eine Niete: drei glatte und leere, wenn auch bröcklige Wände. An der vierten stapelten sich Pappkartons bis unter die Decke. Lázlo seufzte leise auf, lauschte, packte die Leiter und begann die Kartons abzutragen. Zum Glück musste er nicht viele herumschleppen. Schon hinter dem dritten machte er ein Gitter aus. Gut. Aber was jetzt? Er drückte Ohr und Wange an das Gitter und lauschte. Tatsächlich: Eine, nein zwei Stimmen. Aber er verstand nichts, konnte nicht einmal identifizieren, wer da redete. Nachdenklich
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