Blutsauger
wie sie aus ihrem Gehabe schloss. Sie hatte es insgeheim bereits bereut, dass sie in diesem luftigen und abenteuerlich kurzen Strandkleidchen gekommen war. Aber nachdem ihr ihre jüngere Kollegin Caroline Sauer vorgeschwärmt hatte, dass es wieder, wie voriges Jahr, eine Südseebar geben würde, waren sie beide der Idee verfallen, sich angemessen zu kleiden – obwohl dies bei Weitem nicht alle Besucher getan hatten. Unterm närrischen Volk war so ziemlich alles zu finden, was zu jeder beliebigen Faschingsveranstaltung gepasst hätte: Matrosen und Cowboys, Samba-Tänzerinnen oder in allerlei Tierkostüme gewandete Gäste, je nachdem, was einschlägige Supermarkt-Ketten in dieser Saison im Angebot hatten. Dazu zählte offenbar auch ein katzenfellartiges Oberteil, wie es Caroline an diesem Abend schon einige Male aufgefallen war. Sie selbst hingegen hatte sich für kurze, ausgefranste Jeans und ein buntes T-Shirt entschieden. Dass sie damit ebenso auffallen würde wie ihre Kollegin, war ihr natürlich klar gewesen, zumal sie beide auf einen netten Flirt gehofft hatten. Doch die Nacht verlief bisher eher enttäuschend. Zwar hatten sie ein paar Mal getanzt, aber keiner der Männer war ihr Typ gewesen. Andere, die ihnen mehr zugesagt hätten, waren meist in Begleitung.
Melanie, inzwischen 30 und nach einer Beziehung, die nach sechs Jahren zerbrochen war, ziemlich frustriert, fühlte sich angesäuselt und kicherte ihrer Arbeitskollegin ins Ohr: »Du kennst ja den Spruch: Männer sind wie Toiletten. Entweder besetzt oder beschissen.« Ihr lautes Lachen wurde von der Musik geschluckt. Melanie warf ihre schulterlangen braunen Haare zum wiederholten Male schwungvoll nach hinten, wobei sie an den Arm eines nebenstehenden Mannes stieß, den sie nicht beachtete. »Vergessen wir die Typen einfach«, grinste sie, nahm ihr Sektglas zur Hand und prostete Caroline zu. »Auf Gran Canaria.«
Caroline lächelte zurück. »Auf Elmar.«
Melanie verschluckte sich und prustete. »Wir werden ihm ganz schön einheizen.«
Ihre Kollegin stellte das Glas zurück und zog ein spitzbübisches Gesicht. »Ich hab mir extra ein paar heiße Höschen gekauft.«
Melanie überlegte einen Moment und spürte so etwas wie Zweifel, ob es richtig gewesen war, sich zu zweit von Elmar einladen zu lassen. Sie mochte ihre junge Kollegin. Seit fünf Jahren arbeiteten sie als Krankenschwestern in der Helfenstein-Klinik. Doch wenn es nun in diesen wenigen Urlaubstagen, die ihnen bevorstanden, zu Eifersüchteleien kam, dann konnte anschließend das Betriebsklima erheblich darunter leiden. Diesen Gedanken hatten sie in der anfänglichen Euphorie verdrängt. Und inzwischen wollten sie nicht offen aussprechen, dass es zu einem verhängnisvollen Konkurrenzkampf kommen könnte. Ganz abgesehen davon, dass Elmar verheiratet war.
3
Die Samstagnacht am Faschingswochenende war gefürchtet. Wer in der Ambulanz arbeitete, studierte bereits Monate zuvor den Schichtplan – in der Hoffnung, in dieser Nacht nicht arbeiten zu müssen. Es gab wenige Nächte, die derart unbeliebt waren. Nur im Sommer, wenn bei Stadt- und Bierzeltfesten reichlich Alkohol floss, hatte man mit ähnlich vielen unangenehmen Zeitgenossen zu rechnen.
Shakir Salbaisi, ein kleiner, wuseliger Mann mit einem fast kahlen Kopf, nahm hingegen solche Nächte gelassen und mit Humor. Zusammen mit der Ambulanzschwester Brigitte hatte er schon manches erlebt, was ein Außenstehender kaum nachzuvollziehen vermochte. Blutige Nasen oder aufgeplatzte Lippen nach Schlägereien waren das Geringste. Viel schlimmer waren betrunkene Ehemänner, die ihre verprügelten Frauen heranschleppten und behaupteten, es handle sich um einen häuslichen Unfall – weil die Frau angeblich zu mitternächtlicher Stunde beim Putzen von einer Leiter gefallen sei. Oder es kamen Jugendliche, die an Händen und Armen blutende Stichwunden aufwiesen und erklärten, sie hätten versehentlich in die Klinge eines Taschenmessers gegriffen. Bei Verdacht auf eine Straftat war Salbaisi natürlich gezwungen, die Polizei zu verständigen. Kürzlich hatte ein Randalierer sogar die halbe Einrichtung kurz und klein geschlagen.
Weil es in der Klinik kein Wartezimmer gab, mussten die Patienten knapp 50 Schritte entfernt, zwischen dem Untersuchungsraum und einigen Büroräumen, geduldig auf harten Stühlen im Flur sitzen. Bei starkem Andrang konnte dies durchaus eine Stunde und länger dauern. Hier ging es nach Dringlichkeit: Wer augenscheinlich schwerer
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