Blutsauger
ärztlichen Fachbegriffen oftmals schwertaten und nicht wagten, vor dem Herrn Doktor nachzufragen. »Es ist wahrscheinlich nichts gebrochen.«
»Wie ist’s denn passiert?«, wollte Salbaisi eher beiläufig wissen, während er den Schein fürs Röntgen ausfüllte.
»Beim Tanzen«, antwortete der Mann schnell, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Sie hat einfach getanzt wie der Teufel«, fügte er leicht grinsend an.
Salbaisi hob den Kopf zu ihm. »Wie der Teufel?«, fragte er grinsend. »Sie meinen wohl: Mit dem Teufel?« Und an die Frau gewandt, der die Schwester einen Rollstuhl neben die Liege schob, ergänzte der Doktor: »So kann’s gehen, wenn ein Engel mit dem Teufel tanzt.«
Beim vorsichtigen Umsteigen von der Liege in den Rollstuhl verging ihr das Lachen, obwohl die Ambulanzschwester ihr unter die Arme griff, um ihr weitere Schmerzen möglichst zu ersparen.
Der Mann, der sich in einem Wandspiegel betrachtete und sein Totenkopf-T-Shirt in dieser Umgebung für völlig unpassend hielt, unternahm den krampfhaften Versuch, locker zu wirken: »Sind wir eigentlich die einzigen Faschingsverrückten, die heut Nacht zu Ihnen kommen?« Die digitale Uhr auf Salbaisis Schreibtisch zeigte kurz vor halb zwei.
Salbaisi druckte das Formular fürs Röntgen aus und wandte sich dem Mann zu: »Wenn’s nur Faschingsverrückte wären, wären wir zufrieden.«
Weil er bei seinem Gegenüber Ratlosigkeit erntete, wurde er deutlicher. »Manchmal ist hier wirklich die Hölle los – mit den Betrunkenen und Gewalttätigen.«
Der als Teufel verkleidete Mann nickte, um sogleich humorvoll anzumerken: »Und wenn heut Nacht einer im Arztkittel hier auftaucht, wissen Sie womöglich nicht mal, ob es ein echter Kollege ist?«
Salbaisi runzelte die glatte Stirn und zögerte. Die anfängliche Zurückhaltung des Mannes mochte nicht zu dieser eher saloppen Äußerung passen. »Auch Ärzte sind nur Menschen«, erwiderte er deshalb und musste sich insgeheim eingestehen, dass es keine sonderlich originelle Antwort war. Er reichte dem Mann den Röntgenschein und deutete zur Tür: »Einfach rechts und dort warten, bis Ihre Frau aufgerufen wird. Anschließend sehen wir uns wieder.«
Der Angesprochene umfasste die Griffe des Rollstuhls, in dem seine Frau saß, und ließ sich von der Ambulanzschwester die Tür öffnen. Im Hinausgehen drehte er sich noch mal zu Salbaisi: »Dann passen Sie mal auf, dass Sie nicht noch einen echten Kollegen treffen, heut Nacht.«
Der Arzt und die Schwester sahen sich für einen Moment verwundert an.
»Ich hol den Nächsten«, wurde Brigitte sofort wieder geschäftig.
Während sie sich auf den Weg durch zwei angrenzende Büros zum Anmeldebereich der Ambulanz machte, wo noch immer ein halbes Dutzend Patienten saß und lustlos in abgegriffenen Illustrierten blätterte, tippte Salbaisi seine vorläufige Diagnose zum schmerzenden Fuß der Patientin in die Tastatur seines Computers. Seit die Bürokratie im Gesundheitssystem geradezu gigantische Ausmaße angenommen hatte, konnte es vorkommen, dass der Schreibkram länger dauerte als die Untersuchung. Salbaisi empfand dies als eine geradezu fahrlässige Verschwendung wertvoller Zeit, die sinnvoller für Gespräche mit Patienten genutzt werden sollte. Als er vor über 20 Jahren nach Deutschland gekommen war, hatte er geglaubt, seine ganze Schaffenskraft zum Wohle kranker Menschen einsetzen zu können. Inzwischen fühlte er sich eingeengt und ausgebremst – und es schien ihm, als stünden in diesem Lande nicht mehr die Patienten, sondern Formulare und neuartige, vor allem aber komplizierte Abrechnungsmodelle, wie man sie aus Australien importiert und mit deutscher Gründlichkeit verfeinert hatte, im Mittelpunkt seiner Arbeit.
Er versuchte, sich auf den Monitor zu konzentrieren, und bemerkte deshalb auch nicht, dass jemand die Tür leise geöffnet hatte.
»Und, Herr Kollege«, nahm er eine sonore und vertraute Stimme wahr. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Dr. Volker Moschin vorbeischaute – wie er dies immer tat, wenn sie beide Nachtdienst hatten. Diesmal war er sogar spät dran, wie Salbaisi bemerkte.
»Was soll ich sagen?«, erwiderte Salbaisi, ohne aufzusehen. »Der übliche Wahnsinn.« Er tippte noch einige Worte, während Moschin näher kam. Sie beide verstanden sich gut. Meist fand sich in solchen gemeinsamen Nächten eine Gelegenheit zu einem kleinen Plausch. Moschin, leitender Oberarzt in der Anästhesie, hatte heute Nacht
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