Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
kreist in der Runde. Der letzte Junge kriegt nur noch einen schauerlichen Rest. „Brand in der Kehle“, Brand in den Kehlen von Jungen im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren. Nur wenige sind älter. Ist es Renommiersucht, diese Gier nach dem Alkohol? Unmittelbar auf den Weinbrand folgt eine Flasche Pflaumenschnaps. Auch sie geht ex. Dann werden Zigaretten herumgereicht. Von draußen wird die Tür aufgeschlossen. Der Posten läßt sich ablösen. Jeder eine halbe Stunde. Eine Tanzplatte animiert alles zum gedämpften Mitsingen und Mitpfeifen.
Flackernd von dem Tabaksrauch leuchtet die Altarkerze. An ihr ist ein Strick befestigt, der, an der Wand entlang, durch ein Loch in der Tür, ins Freie führt. Eine ebenso einfache wie geräuschlose Alarmvorrichtung. Nähert ein Fremder sich der Laube, etwa ein Wächter des Geländes oder gar Polizei, zieht der Posten draußen an der Strippe: die Kerze fällt um.Dunkelheit. Jeder hat sich ruhig zu verhalten. Aber wer soll jetzt mitten in der Nacht kommen? Zur Abwechslung und Stillung des Kohldampfes im Bauch wird Blockschokolade in dicken Pfundriegeln herumgereicht. Jeder schlägt seine Zähne in die hinterlassenen Zahnspuren seines Vorabbeißers. Ulli, der nunmehr Mündige, erzählt von seinem jahrelangen, erbitterten Kampf mit der Polizei, mit dem Jugendamt, mit den Erziehern in den Anstalten. Sie gönnten ihm nicht die Freiheit, die Straßen, die Kneipen, Rummelplätze, die Mädels. Da wehrte er sich. Mit Händen und Füßen ging er gegen seine Feinde vor, die ihn einsperren wollten. „Vor Kohldampf verrecken! Ja, aber wo ich will!“
Draußen werden Stimmen laut. Die des Postens und zwei fremde. Aber die Alarmkerze steht steif und stur. Ulli löscht sie mit einem Griff aus. Gewürge, Gekeuche draußen, Stimme des Postens: „Ulli! … Ulli, alle raus!“ Die Tür ist verschlossen, den Schlüssel hat der Posten. Runter die Fetzen vom verhängten Fenster! Ulli zwängt sich hindurch, ist draußen. Vier andere Burschen folgen. Die werden es schon schaffen. Draußen ein kurzer Überwältigungskampf, fast lautlos. Der Posten ist befreit und schließt auf. Dann bringen die fünf Befreier zwei fremde Burschen in die Laube. Ein neuer Posten zieht auf, die Kerze leuchtet wieder. Ans Licht mit den Jungens. Keine Fremden! Angehörige einer feindlichen Clique, die es auf Ulli abgesehen hatten. Aber sie gedachten Ulli, der auch sonst hier nächtigt, allein zu treffen, um ihm nach Strich und Faden das Fell zu versohlen. Keile? Könnt ihr haben,entscheidet Ulli. Aber Mann gegen Mann! Einen nimmt der angegriffene Posten, den anderen Ulli. Boxkampf natürlich.
Alles quetscht sich an die Wand, um in der Mitte einen Ring frei zu machen. Ulli fängt an. Ein gar zu kurzer Kampf. Das Bedauern ist allgemein. Ein saftiger Schlag von Ullis Faust pfefferte den Gegner zwischen die leeren Flaschen. Eine zerbrach an dem harten Schädel. Ungefährliche, aber stark blutende Stirnwunde. Der Junge ist erledigt. Er preßt sein Taschentuch auf die Wunde und läßt sich von seinen Feinden einen Viertelliter Schnaps eintrichtern. Das zweite Paar: beide Burschen fahren wie wild aufeinander los. Keiner hat vom Boxen auch nur einen Schimmer. Sie prügeln und dreschen, daß ganze Haarbüschel fliegen und das obligate Nasenbluten eintritt. Lachen und Witzereißen der Zuschauer. Auch die Kämpfenden grinsen wild mit ihren blutverschmierten Gesichtern. Die Sache wird komisch. Aus, bestimmt Ulli. Er hat Geburtstag heute und vergibt seinen Feinden. Auch der zweite Bursche bekommt sein gerütteltes Maß Schnaps, dann ziehen sie beide ab. Daß sie das Gelage nicht verraten, weiß jeder. Täten sie es, lägen sie wenige Stunden später mit zerschlagenen Knochen in der Charite. Verrat ist eine Angelegenheit, die nur mit Blut, einer gehörigen Portion Blut bereinigt werden kann.
Weiter mit der Fete! Flaschen kreisen. Eine nach der anderen fliegt geleert in die Ecke. Das Grammophon quäkt unverdrossen. Schwirrendes Durcheinander, das lauter und lauter wird: der Alkohol! Die Jungens am Bodenwerden erschreckend schnell zu lallenden Kriechtieren. Da gröhlt jemand ein Wort in das Chaos: „Weiber!“ Wie ein Schrei flackert die Gier aller Burschen auf: Ja, Weiber! Ecke Kolonie- und Badstraße stellt die Prostitution ununterbrochen ihre bejahrten Posten aus. Zwei Jungens gehen. Kommen zurück mit einer Frau von reichlich vierzig Jahren. Sechzehn Jungen, die sich wie toll gebärden, und eine Frau. Ulli erledigt sogleich
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