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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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Büfett: gleich zwei Uhr. Um sieben kann er in die Wärmehalle gehen. Noch fünf Stunden. Am Stehtisch wird es leer, Willi reklamiert endgültig den schalen Bierrest als sein Eigentum. Jetzt kann er bis drei Uhr stehenbleiben, kann ihm keiner verwehren.
    Ein neuer Gast, junger Mensch wie Willi, kommt ins Lokal. Holt sich beim Zapfer ein Glas Bier und fünfundzwanzig Zigaretten, nimmt beides und geht an Willis Tisch. Der hat, denkt Willi, gleich fünfundzwanzig Stück. Der Fremde trinkt sein Bier, zündet sich eine Zigarette an und wirft einen kurzen Blick auf Willi. Beide sehen sich an. Verflucht, woher kenn’ ich den, denken dann beide. Auch Willi kommt der Junge plötzlich bekannt vor. Zwei Minuten vergehen. Jeder wühlt in seinem Verstandskasten nach dem erlösenden „Woher kenn’ ich den?“ Die Jungens umlauern sich, aber keiner wagt es, den anderen zu fragen.
    Bis der Fremde sich entschließt und Willi anspricht: „Kennen wir uns nicht?“ „Ich glaub’ auch …“, antwortet Willi. „Warst du nich mal in der Fürsorge in H.?“ fragt der Fremde weiter. Da gehen Willi plötzlich alle Lichter auf: „Ludwig! Mensch, was machst denn du?“ Auch Ludwig ist jetzt im Bilde:„Willi, nich? Willi aus Saal 2, nich?“ „Na klar!“ Zwei aus H. Geflitzte haben sich gefunden. Ludwig ist vor zwei Jahren geflitzt, Willi vor kaum zwei Wochen. „Na, Mensch, so was!“ „Na, so was, Ludwig!“ „Wollen wir uns setzen?“ schlägt Ludwig vor. „Ausgemistet, Ludwig“, antwortet Willi. „Macht nischt, Willi, komm, ich hab’ Geld.“
    Sie finden einen kleinen Tisch für sich. Für Ludwig ist ausgemistet und Hunger haargenau dasselbe. Deshalb fragt er gleich: „Also, was willste essen, Willi?“ und schiebt ihm die Speisekarte hin. „Bockwurst oder so …“ „Hat sich wat mit Bockwurst! Orntlich was Warmes.“ Er sieht selbst auf die Karte. „Eisbein und vorher Erbsensuppe“, entscheidet er für Willi. Ludwig bestellt das Essen für Willi und für beide Bier und Kognak. Ihnen beiden steht die Freude in den Augen. Die Freude, einen Genossen aus derselben Anstalt gefunden zu haben. Die Freude des Erzählens und Anhörens, wie jeder die Flucht aus der Anstalt bewerkstelligte. „Du ißt erst mal“, bestimmt Ludwig und beginnt mit der Schilderung seiner Flucht aus H. Und wenn Ludwig fragt: „Weißte noch, wie der kleene Heini und ich …“ und „Kannste dir noch entsinnen, wie der Direktor …“, dann kann Willi, mit vollen Backen, nur eindringlich und bestätigend „Hmm … hmm … hmm!“ antworten.
    Und Ludwig berichtet. Von seinen Irrfahrten, bis er überhaupt in dem ihm völlig fremden Berlin war. Von dem Hungerleben, vom Übernachten in Eisenbahnwagen, in Abbruchruinen und halbfertigen Neubauten. Vom Anbieten seines Körpers, um nicht vor Hunger zu verrecken wie dieelendeste Katze. Von gelegentlichen kleinen Notdiebereien. Bis er Anschluß an die Blutsbrüder fand. Und dann die Erlebnisse der letzten Monate, die Gefängniszeit. Wie er dem Transporteur ausrückte. „Und nu bin ich polizeilich gemeldet und heiß’ August Kaiweit“, schließt Ludwig seine Schilderung. Willi erzählt den Verlauf der letzten Wochen. Vieles deckt sich mit den Erlebnissen Ludwigs und hundert anderer Jungen, die den Hunger in der Freiheit dem Halbwegssattsein in der Fürsorge vorziehen. Für Ludwig steht es fest, daß Willi zur Clique kommt. Er wird es schon mit Jonny regeln, daß Willi nicht erst die Lehrlingszeit in der Clique durchzumachen braucht. Und Willi möchte mit beiden Händen zugreifen. Es graut ihm davor, wieder allein zu sein, in dem endlosen, unbarmherzigen Berlin. Mit Kameraden trägt sich alles viel leichter. — Polizeistunde wird geboten. Untergehakt gehen sie zum Nachtomnibus. Vorläufig wird Willi bei Ludwig schlafen.
    Am nächsten Morgen wird Willi in der Rückerklause der Clique vorgestellt. Alle Jungens sind da. Auch Walter. Er trägt noch einen Verband am linken Unterarm und fühlt sich als Held. Jonny beguckt sich Willi, fragt ihn aus. Ein Fremder, von dem man nichts weiß, der ja alles gelogen haben kann, was er erzählt, in einer Clique? Ausgeschlossen. Aber hier liegt der Fall ja anders. Ludwig bürgt für Willi. Jonny hat nichts gegen ein neues Mitglied. Die Jungens sollen ihre Meinung sagen. Wenn Ludwig glaubt, daß der Willi richtig ist: gut, soll er Mitglied werden. Willi wird von jedem mit einem Handschlag alsBlutsbruder begrüßt. Ein feierlicher Umtrunk gibt der Neuaufnahme

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