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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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verabreicht wird. Die Spezialität des Wirtes sind unerhörte, förmliche Masteisbeine in Gelee. Die Clique räumt mit allen Beinen auf und veranstaltet ein ausgedehntes Abendessen. Abgenagte Beine und Beinknochen türmen sich auf dem Tisch, der Wirt muß über die Straße schicken, um beim Bäcker hintenherum neue Schrippen zu holen. Alle futtern wie die Scheunendrescher.
    An der Theke lehnt ein invalider Orgeldreher. Der linke Rockärmel hängt schlaff und leer herab. Die rechte, einzige Hand des Invaliden hält ein großes Schnapsglas und führt es zum Munde. Ein Schluck. Die schnapsnassen Lippen formen sich zu einem eigenartigen Pfiff. Wie auf Kommando flitzen aus den beiden Rocktaschen je zwei große weiße Ratten. Klettern behende auf die Schultern des Invaliden und machen Männchen. Gelächter und Beifall der umstehenden Gäste. Der Invalide ist ob seiner Rattendressur geschmeichelt, er nimmt das noch halb volle Schnapsglas und hält es jeder Ratte unter die Nase. Jeder Rattenkopf beugt sich in das Glas und schlürft eine Kleinigkeit des süßen Schnapses. Wieder ein Pfiff. Die Ratten verschwinden gehorsam in den beiden Rocktaschen. Zufrieden trinkt der Invalide den Rest des Schnapses. Die Tiere begleiten ihn auf seiner Tour. Machen Männchen zu der Musik, flitzen ins Hosenbein des Invaliden und kommen am offenen Hemdkragen wieder heraus. Rattenpaule ist ein Prominenter seiner Zunft und soll vermöge der Zugkraft seiner dressierten Ratten nicht schlecht verdienen.
    Satt und faul sitzen die Blutsbrüder vor ihrem Bier. Anneliese rutscht unruhig auf ihrem Stuhl herum. Sieht mit ängstlichen Augen nach einem Tisch nahe dem Ofen. Dort sitzt ein junger Bursche und starrt mit feindseligen Augen die Blutsbrüder an. Und wenn sich seine Blicke mit Annelieses unruhigen Augen treffen, wird Anneliese noch unruhiger, noch ängstlicher. Plötzlich steht der Bursche vor dem Tisch der Clique: „Anneliese, komm mal her!“ Es klingt brutalund drohend. Schon will Anneliese feige gehorchen, da springt Jonny auf: „Was willst du von dem Mädchen?“ „Wat dir nischt anjeht, oller Affe!“ ist die nicht allzu freundliche Erwiderung. Mit dem Jonny eigenen urplötzlichen Tempo hat der Bursche eine mächtige Backpfeife weg. Ehe er sie gut verstaut hat, fällt ihn schon ein zweiter Angriff an, und er landet in einem netten Bogen auf der Straße. Traut sich auch nicht wieder ins Lokal. „Wer war das, Anneliese?“ fragt Jonny. Anneliese heult. „Na, du weißt doch … von Friedel Peters seine Clique einer.“
    Anneliese war noch vor einer Woche die Liebsche einer anderen Clique, eben jenes Friedel Peters Clique. Aber das Leben bei Friedel behagte Anneliese nicht mehr. Keiner hatte Geld, und eines Tages hatte Friedel sogar gesagt: „Anneliese, du mußt anschaffen gehen für uns.“ Und da war sie zu Jonnys Clique gekommen, weil die Geld hatte. Anneliese handelte nicht anders als die Liebsche eines Schwerindustriellen, die auch zum Bankdirektor übersiedeln wird, wenn es der Schwerindustrie nicht mehr so leicht fällt, das Nadelgeld für die Liebsche aufzutreiben …
    „Da können wir ja heute nacht noch ’ne kleine Keilerei kriegen“, sagt Konrad gedankenvoll. „Kannst schon recht haben“, erwidert Jonny. „Franz, zehn doppelte Koks!“ bestellt Fred. Zu einer Keilerei in spe gehört Schnaps. Jonny hat zwei Schlagringe. Einen gibt er an Konrad ab, der ingrimmig mit dem zackigen Eisen auf den Tisch boxt. „Zehn Schnäpse“, bestellt Jonny. Der schnell hintereinandergenossene Alkohol macht die Jungens rebellisch, keilerei-lüstern. Aber keiner kommt und will die Anneliese haben. Anneliese, eben noch feige losheulend, fühlt sich geschmeichelt, daß es ihretwegen vielleicht zu einer Keilerei kommt. Vorerst ist es im Lokal noch sehr friedlich.
    Ein junger Mann, Milieufremder, kommt in das Lokal und verhandelt mit dem Wirt. Ein stellungsloser Artist, ein Akrobat. Trotzdem das Lokal jetzt brechend voll ist, bekommt er die Erlaubnis, seine Kraftnummern zu zeigen. So etwas interessiert in diesen Kreisen. Bereitwilligst werden dem Artisten zwei Stühle, die er als Arbeitsgerät braucht, freigemacht. Alle Gäste sind aufmerksam geworden und scharen sich, eine große Familie, um den Artisten, gespannt in Erwartung des Kommenden. Handstand mit einem Arm auf der obersten Kante der Stuhllehne. Der betrunkene, einarmige Rattenpaule gröhlt von hinten: „Det is janischt, da sollste mir mal sehn …“ Der Artist betätigt sich als

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