Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
Schlangenmensch, verrenkt und verzerrt seinen Körper, bis das Gesicht kupferrot anläuft. Das imponiert. Alles ist von der Arbeit des Artisten gefesselt. Sogar der Wirt drängt sich herzu, und der Kellner läßt das bestellte Bier auf dem Tablett schal werden.
Jetzt kommt der Zahnakt. Mit den Zähnen hebt der Artist erst einen Stuhl hoch und beschwert ihn dann noch mit dem zweiten Stuhl. Das ist der Clou seiner Leistungen. Der Zahnakt imponiert gewaltig. Zumal man dem Gesicht des Artisten die ungeheure Anstrengung deutlich ansieht. Verzerrt, blutrot ist es, die Augen treten aus den Höhlen, der ganzeKörper zittert. Die Gäste sind restlos begeistert. Beste Gelegenheit für den Artisten, einsammeln zu gehen. Erfolg: bare eine Mark und achtzig Pfennig. Auch in Bettlerkreisen läßt man sich nicht lumpen, wenn die Leistung danach ist. Der Artist wird von Rattenpaule zum Schnaps eingeladen. Verstohlen wischt er sich Blut aus den Mundwinkeln. Der barbarische Zahnakt hat ihm das Zahnfleisch zerrissen.
Die bewiesene Kraft des Artisten ist nicht dazu angetan, den lodernden Kampfesmut der Blutsbrüder zu kühlen. Wenn der Friedel Peters und seine Kumpane doch nur kommen würden, um Anneliese zurückzuholen! Junge, Junge, würden die Biergläser fliegen, die gerupften Stuhlbeine durch die Luft sausen! Aber nichts geschieht. Wenn die eben so feige sind und die Keile, die ihr Kamerad besehen hat, ungerächt lassen, sollen sie. Gehen wir, haben lange genug gewartet. Wohin? Zur Tante Minchen an der Warschauer Brücke. Da ist vielleicht Schwoof. Jonny zahlt die Zeche von über dreißig Mark. Wo die nur das viele Geld herhaben, denkt Ludwig wieder.
Auf der stillen Straße ist nichts von lauernden Cliquenburschen zu sehen. Am Schlesischen Bahnhof vorbei biegen die Blutsbrüder in die tote Mühlenstraße ein. Hundert Meter vor ihnen läuft jemand eilig über die Straße und ist im Schatten der Häuserfronten verschwunden. Die Clique geht in zwei Viererreihen, zwischen ihnen die angstbibbernde Anneliese und der Jüngste, Walter. Wieder eilt jemand über die Fahrbahn. Diesmal können sie erkennen, daß es der Burscheist, der von Jonny die freibleibenden Keile bezogen hat. „Hast du den Schlagring, Konrad?“ fragt Jonny. „Na und ob!“ erwidert Konrad. Die hundert Meter sind zurückgelegt. Die Mühlenstraße weitet sich zum Rummelsburger Platz.
„Raus!!“ brüllt es in nächster Nähe der Clique. Vor und hinter den Blutsbrüdern spritzen zehn, zwölf Cliquenburschen aus dunklen Haustoren. Die vordere Reihe der Blutsbrüder mit Jonny und die hintere mit Konrad fangen den Angriff auf. Walter eilt mit Anneliese auf die andere Straßenseite, kann es aber in der Etappe nicht aushalten, läßt die wimmernde Anneliese im Stich und hopst mitten in den Knäuel der sich balgenden Burschen. Jonnys und Konrads Schlagringe schmettern auf Kinnladen, sausen auf Oberarmmuskeln und hacken auf harte Schädel. Fast lautlos geht der Kampf vor sich. Beide Parteien wissen, daß, wenn es laut wird, im Nu ein Überfallflitzer zur Stelle ist, und Polizei ist unerwünscht bei dieser internen Auseinandersetzung.
Wenn nur mehr Licht wäre. Blutsbruder fährt Blutsbruder in die Kledasche, und bei der Gegenpartei ist es nicht anders. Für die Angreifer sieht es bereits kritisch aus, die Schlagringe sind zu hart für ihre Schädel. Da fällt ein Schuß. Peng! Wie ein Peitschenknall. Walter trudelt in den Rinnstein, hält seinen linken Unterarm: „A u…uhh!“ Der Schuß, der Schrei des Getroffenen sind für die Petersjungens Signal genug. Sie reißen aus. Die Blutsbrüder stehen keuchend allein da und bemühen sich um Walter, der beharrlich sein „Au…uhhhh“ in die Stille brüllt.
Da öffnen sich auch schon Fenster. Nachtjacken und Netzhemden schreien fröstelnd „Mord“ und „Polizei“ und „Überfall“. „Weg!“ kommandiert Jonny. In Richtung des Schlesischen Bahnhofes rennen sie. Jonny und Konrad stützen Walter. Ludwig und Georg haben die heulende Anneliese beim Wickel genommen. In der Fruchtstraße erwischen Jonny und Konrad eine Taxe, sie stubsen Walter hinein und springen nach. Aus dem Fenster schreit Jonny: „Alle nachfahren … Badstraße!“ Dann ist der Spuk vorbei. Die Clique flitzt paarweise auseinander. Paarweise nehmen sie sich Taxen mit dem Ziel Badstraße.
Gotthelf, ehemaliger Zuchthäusler, jetzt treusorgender Cliquenvater, ist nicht weiter erstaunt, als seine Schlafburschen mit dem blessierten Walter ankommen. „So wat
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