Blutsbrüder
behutsam über die Wange, den an den Rändern schon schillernden Bluterguss, und sagt: »Auf jeden Fall müssen wir Hakan stoppen. Der rennt, so oder so, ins offene Messer. Und außer uns ist niemand, kein Einziger mehr d a …«
Kurz denkt er an Hakans Sturheit, an seine Schroffheit ihm gegenüber und spürt, wie ihn die Erinnerung schmerzt. Doch zugleich weiß Darius, dass ihm keine Zeit bleibt, um seinen Gefühlen nachzugeben und beleidigt zu sein.
Alina ist bleich geworden.
»Du hast Recht«, sagt sie, während es schon zur Stunde klingelt, »wir müssen unbedingt mit Hakan sprechen. Und«, sie zögert, »auch mit der Polizei?«
Darius staunt. Seit sie mit der Antifa-Arbeit begonnen haben, gilt eine Regel, die besagt: Mit der Polizei wird nicht geredet.
Andererseit s …?, denkt er und zuckt die Schultern. Er mustert Alina und merkt, dass auch ihr bei dem Gedanken nicht wohl ist.
»Hm«, wieder zuckt Darius die Achseln, »was sollen wir denen sagen? Einfacher wäre es, Hakan zu überzeugen.«
»Okay.« Alina lächelt hilflos. Hastig verabreden sie ein Treffen nach der Schule. Bevor Darius sich umdrehen kann, gibt ihm Alina einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Danke!« Und ehe sie um eine Ecke des Schulflures verschwindet, um in ihren Kurs zu gehen, ruft sie: »Hol mich nachher am besten gleich vom Sport ab, da bei den Umkleideräumen!«
Im Unterricht kann sich Darius kaum konzentrieren. Den Lehrern scheint seine Abwesenheit während der letzten Tage nicht weiter aufgefallen zu sein.
Darius’ Gedanken treiben davon. Er führt sich noch einmal die Zeit mit Hakan vor Augen, erinnert sich an die Grundschule und an das Gymnasium, fragt sich erneut, wie es zwischen ihnen so weit hat kommen können, unterdrückt den Ärger, fragt sich, ob Hakans Herkunft für sein Verhalten verantwortlich sein könnte, verwirft den Gedanken, hat trotzdem den Eindruck, es gehe auch für Hakan um Stolz, um Ehre, erschrickt bei dieser Überlegung und sagt sich schließlich: Egal, was für Beweggründe Hakan haben mag, wichtig ist erst mal, ihn von seinem Kampf mit Emre abzubringen.
Darius reiht Argumente aneinander, legt sich Formulierungen für das Gespräch mit Hakan zurecht, als er das Vibrieren seines Handys spürt und eine SMS von Rike empfängt.
Bin ziemlich im Stress. Läuft aber gut. Und an deinem Geburtstag mach ich einfach blau. Bis morgen! Kuss! Friederike.
Schuldbewusst schreibt Darius eine eilige Antwort. Seit er aufgewacht ist, hat er nicht mehr an Rike gedacht.
Was bedeutet das?, fragt er sich und hängt weiter seinen Gedanken nach. Zum Glück scheint er für die Lehrer unsichtbar geworden zu sein, sodass er dem Unterricht nicht zu folgen braucht. Wieder denkt er an Hakan und an die Gruppe, die sich verlaufen hat und nicht mehr zusammenfinden wird, denkt an Rik e – und ist bestürzt, wie schnell sich alles ändert. Die Kehle wird ihm eng. Zwei verschiedene Welten, die nicht zueinanderpassen. Auf der einen Seite Rike, die Tage mit ihr in der neuen Wohnung, auf der anderen Seite die Zeit davor: mit den Freunde n … die meine Freunde vielleicht nie gewesen sind? Die einander genug sind? Die mich manchmal gebraucht haben? Und sonst? Die einfach anders sind als ich, aber auch anders als Hakan?
Er ist trotz allem derjenige gewesen, der wirklich mit mir befreundet war. Schon in der Grundschule, als Einziger. Der mir geholfen hat, wenn es nötig wurde.
Als Darius nach Unterrichtsschluss in der Sporthalle ankommt und die Treppe zu den Umkleideräumen hochläuft, hört er schon aus einiger Entfernung Lärm, ein Durcheinander von Stimmen. Kaum dass er den Flur mit den Kabinen erreich t – die Tür zur Umkleide steht offen, ein Pulk Mädchen umringt Alin a –, erkennt er den Anlass.
Jemand hat Alinas Kleidung zerschnitten. Außerdem scheint die Unterwäsche zu fehlen, die sie nach der Sportstunde hat wechseln wollen. Die Fetzen ihrer Sachen liegen verstreut auf dem Gang und im gekachelten Umkleideraum, einige auch in der Dusche.
Niemand hat bisher etwas berührt oder weggeräumt. Inmitten der aufgeregten Mädchen, die Kleidungsstücke von sich als Ersatz anbieten, steht Alina fassungslos in ihrem Sportdress. Erst als sie Darius durch die Stahltür zum Treppenhaus auf sich zukommen sieht, sagt sie unsicher zu den anderen: »Ja, danke. Nein, ich melde das morgen, ist mir jetzt zu viel. Doch, mit mir ist alles so weit erst mal okay.«
Dann winkt sie Dariu s – »warte auf mich! « – und verschwindet mit
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