Blutsbrüder
Ende der Prügelei ausgestoßen hat: »Du wirst sterben, ich schwöre.« Kein imitierter Slang, keine Spur der üblichen Übertreibung, kein Hauch von Ironie, zu der Emre sehr wohl fähig ist. Nur die nüchterne Drohung, die in Darius’ Ohren nachklingt.
Alles, was seit dem Zwischenfall mit den Nazis geschehen ist, kommt ihm mit einem Mal fast albern vor, beinahe wie ein Kinderspiel: Hakans spontane Idee angesichts der arabischen Jungen; Alinas Bikini im Bad auf der Rutsche; der Geburtstag im Jugendzentrum und die Ohrfeige für Ömer; selbst der Steinwurf, der bei Cora eher einen Kratzer als eine Wunde verursacht hat; die Szene im Bu s – wie Scheingefechte, Schattenspiele. Selbst der zugedröhnte Whopper, der Tomtom die Rippe gebrochen hat, auch Ömer mit seinem angespitzten Stock: alles nur das Verschieben von Figuren im Sandkaste n – bevor der Krieg erklärt wird, der jetzt begonnen hat.
Als sich die Erkenntnis in Darius’ Kopf durchsetzt, trifft sie ihn wie ein Schlag.
Natürlich könnte ich es Hakan verübeln, dass er mich in die Nähe der Nazis rückt. Natürlich hätte ich das Recht zu sagen: Das geht mich nichts an, es ist seine, nicht meine Sache. Aber was würde das für ih n – und vor allem für mic h – bedeuten?
Mit dieser Frage betritt er die neue Wohnung, während es draußen schon dämmert. Rike schläft bei sich zu Hause, weil sie auch am kommenden Tag ein oder zwei Vorstellungstermine in Betrieben hat. Darius hat Sehnsucht nach ihr, aber er weiß, dass Rike ihm nicht helfen kann. Sie gehört zu einem anderen Leben, einem Leben, das für Darius vielleicht gerade beginn t – aber nur, wenn er die Schwierigkeiten des alten Lebens bewältigt. Sonst werden sie ihm folgen wie die Schatten, die er, weil es zu spät ist, nie mehr loswerden kann.
Ohne noch länger nachzugrübeln, legt sich Darius im Gemeinschaftsraum auf die Matratzen, im Kissen riecht er den Duft von Rikes Shampoo. Obwohl er glaubt, in den verbleibenden Stunden kein Auge schließen zu können, schläft Darius vor Erschöpfung sofort ein. Aber er schläft schlecht, wälzt sich im Schlaf von der einen auf die andere Seite und träumt wild und bewegt wie seit Wochen nicht. Er träumt von Emre, der eine Heerschar kolossaler Cousins kommandiert, alle mit einem Kampfhund an der Lein e – und vor ihnen wartet Hakan, noch immer mit zerschundenem Gesicht und ohne jede Unterstützung.
Die Gruppe kreist Hakan ein, die Hunde knurren, und als Emre zischt: »Jetzt bist du tot, du Verräter«, fährt Darius aus dem Schlaf hoch, richtet sich senkrecht auf und mein t – obwohl es vor dem Fenster schon heller Mittag ist, die Sonne das Zimmer mit Licht überflutet und die Kakteen nach wie vor leuchtend rot blühe n – noch sekundenlang, er befinde sich im Traum, die Whopper hätten das Heft in die Hand genommen und die Hunde hetzten Hakan über das Gelände der verlassenen Fabrik.
Im nächsten Moment ist Darius hellwach. Kurz rechnet er nach, wie lange er schon nicht mehr in der Schule war, und verdrängt den Gedanken sofort. Gibt eh bald Zeugnisse, wird nicht mehr viel passieren.
Obwohl er sich fühlt wie zerschlagen, weiß er, was er zu tun hat. Tomtom kuriert seinen Rippenbruch. Alle anderen sind verreist: auf Austausch, in England. Bleiben Alina und ic h – wir allein müssen Hakan überzeugen, dass Emre es ernst meint: Seit der Grundschule hat er darauf gewartet und seit dem Gymnasium zählt er anscheinend die Tage.
Darius hetzt ins Bad, als laufe ihm die Zeit davon. Er stellt sich einige Minuten unter die eiskalte Dusche, im ersten Augenblick raubt ihm die Kälte den Atem, schnappt sich ein trockenes Brot, schlüpft in seine Sachen und verlässt das Haus.
Als er Alina nach der nächsten großen Pause beim Betreten des Schulgebäudes abpasst, ist es schon kurz vor Unterrichtsbeginn. Ihr Auge ist blau und stark geschwollen, über der Braue klebt ein breites Pflaster.
»Wo ist Hakan?«, fragt sie sofort. »Hat auf keine SMS, nichts geantwortet.«
»Wird nicht kommen.«
Darius schildert in knappen Worten, was gestern nach dem Vorfall mit Ömer passiert ist und wie Hakan ausgesehen hat. Er äußert seine Befürchtung, dass das erst der Anfang sei, dass Emre jetzt Ernst machen werde und dass er, Darius, sich außerdem vorstellen könn e – »dass Emres Cousin und dessen Freunde sich vielleicht auch noch einmischen, die Sache auf ihre Art regeln: Familienbande oder so, kenn mich ja nicht so au s …«
Er mustert Alina, streicht ihr
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