Blutsbrüder
Grundschule.
Dann stehen sie einander gegenüber. Und dann beginnen sie.
Obwohl Darius Kämpfe gewöhnlich noch Wochen später beschreiben kann, Schlag für Schlag und Tritt für Tritt, bleibt ihm von der Schlägerei zwischen Hakan und Emre, einem Kampf ohne Regeln und ohne dass einer der beiden nachgibt, nur in Erinnerung, dass sie so lange aufeinander einschlagen und eintreten, beißen, kratzen, einander an den Haaren reißen, sich gegenseitig niederwerfen, sich wieder auf den Gegner stürzen, blutig, verschmiert vom Staub, mit zerrissener Kleidung und außer ihrem Keuchen stumm gegeneinander anrennen, bis sie vor Erschöpfung innehalten müssen. Nur um danach weiterzumachen wie vorher.
Was Emre Hakan anfangs an Technik voraushat, wiegt dieser durch eine Zähigkeit auf, die Darius zweifeln lässt, dass der Kampf je enden wird. Die Sekundanten treten in den Hintergrund und verstummen. Der Pitbull verhält sich still, manchmal winselt er, als spüre auch er das Unbehagen seines Besitzers.
Eine Weile schauen Emres Begleiter dem Kampf mit aufgerissenen Augen zu. Die Unerbittlichkeit, mit der Hakan und Emre aufeinander einschlagen, ohne dass einer einen Vorteil erzielt, lässt sie unruhig werden. Ein ums andere Mal setzen sie an, etwas zu sagen, um den Kampf zu unterbrechen. Jedes Mal lassen sie es nach einem Blick auf die ineinander verkeilten Körper bleiben, greifen nicht ein, sondern starren schweigend auf das Schauspiel, das immer weitergeht, als seien die Kämpfer willenlose Automaten.
Als es dunkel wird, sagt der große Cousin zaghaft: »Ja, also, Emre, wir müssen denn mal.«
Gemeinsam mit ihrem eingeschüchterten Kampfhund verlassen die Sekundanten den Platz zwischen Pappeln und Friedhofsmauer.
Nur Ömer bleibt. Während er dem besinnungslosen Wüten zuschaut, zeichnet sich auf seinem Gesicht ein Schrecken ab, der ihn keinen Laut herausbringen lässt. Er sieht, wie etwas seinen Lauf nimmt, das er zu verantworten hat.
Darius ist zunächst überzeugt, dass es sinnlos wäre einzuschreiten. Emre und Hakan müssen kämpfen. Sie müssen aufeinander einschlagen, bis ihre Kraft erschöpft ist, ihre Wut verraucht und der Zorn versiegt. Bis der unbedingte Wunsch, den anderen zu verletzen, endlich gestillt ist. Bis beide nicht mehr können.
Denn auch bei Hakan hat Darius inzwischen den Eindruck, dass es um mehr geht als um Ömer, als um Alina, als um Respekt.
Damals auf dem Bolzplatz, denkt Darius, hat der Kampf begonne n – und ohne es zu wissen, hat Hakan mit dem Trikot in der Grundschule eine Entscheidung getroffen, die ihn hierhergebracht hat, zwischen die Gebüsche nah dem Friedhof. Auf dem Gymnasium hat er gewonnen und jetzt schlägt Emre zurück.
Weil Darius nicht weiß, was er tun soll, geht er auf die andere Seite des Platzes. Er legt Ömer, der ihn nicht abwehrt, einen Arm um die Schulter.
Während sie, gemeinsam und doch getrennt, den Ausgang des Kampfes abwarten, hat Darius für einen Moment den Eindruck, von oben auf die ineinander verhakten Gegner zu blicke n – und auf zwei weitere Gestalten am Rand, die eine größer, die andere kleiner, denen man ihr Unbehagen ansieht.
Kurz durchzuckt Darius der Wunsch, an der Stelle des einen oder des anderen Kämpfenden zu sein und damit Teil des Knäuels aus Armen und Beinen, Köpfen, Hälsen und Leibern. Er wünscht sich, seine Beteuerung gegenüber Alina einfach zu vergesse n – die Behauptung, sich nicht mehr zu prügeln. Er will nicht mehr denken müssen, will keine Empfindungen mehr haben außer einer alles verschlingenden Wut.
Dann überwindet sich Darius doch. Er schiebt sich zwischen die ineinander Verkeilten, drängt sie auseinander, trennt die Erschöpften, obwohl er weiß, dass keiner der beiden das billigt. Sieht, wie sie versuchen, aufeinander zuzukriechen, weil sie es nicht mehr schaffen, sich zu erheben.
»Du wirst sterben«, keucht Emre, schwer atmend und ohne auf Darius zu achten, während er sich abmüht, auf die Knie zu kommen, »du wirst sterben, ich schwöre!«
»Kannst kommen«, nuschelt Hakan, der es kaum schafft, sich hochzustützen, weil ihm die Arme bei dem Versuch einknicken. Er wischt sich das Blut von den Lippen: »Jederzeit!«
Noch nicht vorbei, denkt Darius, die werden weitermachen. An Ömers Gesicht erkennt er, dass ihn der Anblick seines zerschlagenen Bruders schmerzt.
Mit Nachdruck drängt sich Darius erneut zwischen die Gegner.
»Aber nicht mehr heute!«
Er sieht, dass ein blasser Mond sich vom Flughafen her
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