Blutschnee
Manche waren stark geschminkt und trugen hautenge Sachen, um ihren Brustansatz zu betonen. Die Jungen der Sechsten dagegen hatten sich in schlaksige, schreiende, lächerliche Geschöpfe verwandelt, denen es allein darum ging, BHs aufzuschnippen, und die einen Furz für das lustigste aller Geräusche hielten. Leider begannen die Jungen aus der Fünften bereits, ihnen nachzueifern.
Wie sie es seit September nach der Schule stets getan hatte, marschierte Sheridan auch an diesem Nachmittag zum »Kleinen Flügel«, um sich dort mit ihren Schwestern zu treffen und mit ihnen auf den Schulbus zu warten. Was ihre Schwestern und besonders diese Pflicht betraf, war sie hin – und hergerissen.
Einerseits ärgerte sie sich darüber, ihre Freunde und deren Unterhaltungen verlassen zu müssen, um jeden Tag zu einem Teil der Schule zu trotten, von dem sie gehofft hatte, dass sie ihm für immer entronnen war. Andererseits war sie besorgt um April und Lucy und wollte bei ihnen sein, um zu verhindern, dass jemand sie schikanierte. Zweimal hatte sie dieses Jahr schon Rabauken verjagt (erst einen Jungen, dann ein Mädchen), die ihre jüngeren Schwestern gepiesackt hatten. Vor allem die sechsjährige Lucy war ein bevorzugtes Ziel, weil sie so … süß war. In beiden Fällen hatte Sheridan die Rüpel vertrieben, indem sie das Kinn gereckt, die Augen zugekniffen und betont ruhig und absichtlich so leise gesprochen hatte, dass sie kaum zu verstehen gewesen war. »Lass meine Schwestern in Ruhe«, hatte sie gesagt, »oder du wirst erleben, was Ärger ist.«
Beim ersten Mal hatte Sheridan etwas darüber gestaunt, dass es so gut klappte. Zwar war sie äußerstenfalls zum Kampf bereit gewesen, wusste allerdings nicht recht, ob sie eine gute Kämpferin war. Als es dann jedoch wieder funktionierte, begriff sie, dass sie die Entschlossenheit und Stärke, die sie oft in sich spürte, nach außen richten konnte, was die Angreifer entmutigte. Lucy und April waren begeistert.
Während sie darauf wartete, dass sich die Türen des Kleinen Flügels öffneten, suchte Sheridan eine Himmelsrichtung, in die sie sich wenden konnte, ohne dass der Schnee ihr ins Gesicht wehte und auf ihrer Brille schmolz, doch da die großen, leichten Flocken wild durch die Luft wirbelten, hatte sie damit kein Glück. Sheridan hasste ihre Brille, vor allem im Winter. Schnee verschmierte die Gläser, und sie beschlugen, wenn sie von draußen hereinkam. Sie nahm sich vor, ihre Eltern noch stärker wegen Kontaktlinsen zu bearbeiten. Ihre Mutter hatte gesagt, wenn sie erst zur Highschool ginge, könnten sie darüber
reden. Doch bis zur siebten Klasse zu warten, erschien Sheridan sehr lange, und sie fand ihre Eltern übertrieben vorsichtig und total altmodisch. In ihrer Klasse gab es schließlich Mädchen, die nicht nur Kontaktlinsen trugen, sondern sich zu Weihnachten ein Bauchnabelpiercing gewünscht hatten. Und zwei Mädchen hatten sogar verkündet, sich noch vor Beginn der siebten Klasse ein Arschgeweih zuzulegen!
Sheridan bemühte sich, zwischen den Autos am Straßenrand den Wagen ihrer Mutter oder den grünen Pick-up ihres Vaters zu entdecken – in der unrealistischen Hoffnung, sie seien gekommen, um sie abzuholen. Aber Fehlanzeige. Mitunter überraschte ihr Vater sie und tauchte mit dem Pick-up der Wild – und Fischbehörde von Wyoming auf. Obwohl es eng wurde, wenn die drei Mädchen und Maxine sich die Beifahrersitze teilen mussten, war es immer sehr schön, von Dad nach Haus gefahren zu werden, der auf der Bezirksstraße außerhalb der Stadt mitunter sogar die Signallichtanlage oder die Sirene einschaltete. Meist musste er wieder zur Arbeit, wenn er die drei daheim abgeladen hatte. Immerhin ist unsere Mom von ihren Teilzeitjobs in der Bücherei und im Pferdestall zurück, wenn wir aus dem Schulbus steigen, dachte Sheridan. Am letzten Schultag des Jahres bei einem solchen Sturm nach Hause zu kommen, hatte schon etwas Besonderes, Magisches. Vielleicht würde ihre Mutter heute backen.
Die Straße, wo der Bus neben der Grundschule parkte, war als Ausweichroute für LKWs ausgewiesen, führte direkt durch die Stadt, vereinigte sich mit der Bighorn Road und führte schließlich auf kurvenreichem Weg in die Berge. Der Lärm schwerer Motoren und Fahrzeuge war daher für sich genommen nicht ungewöhnlich genug, um Sheridan zum Aufblicken zu bewegen.
Als sie es jedoch tat, stellte sie fest, dass es etwas Merkwürdiges
zu bestaunen gab: eine langsame, aber beeindruckende
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