Blutschwestern
von einem Fuß auf den anderen. Würden jetzt die alten Geschichten folgen, die seine Mutter ihm stets erzählte,
wenn sie ihm klarzumachen versuchte, wie gut es ihm doch eigentlich ging. Früher wurden beim Sommerwendenfest unzählige Menschen
geopfert, und der dunkle Gott Muruk forderte seinen Tribut, um dann die Schwesternköniginnen zu trennen und eine von ihnen
nach Dungun, in das dunkle Königreich Muruks zu bringen. Degan war dieser Geschichten müde. Er konnte sich nicht vorstellen,
dass Engil einmal etwas anderes gewesen war als die friedliche Stadt, in der zu Salas Festen getanzt, gesungen und Blüten
verstreut wurden; jene Feste, an denen die Mädchen sich mit Schmuck behingen und sich Gefährten für eine einzige Nacht suchten.
Sicher, es gab da noch den Opferkreis, der einst vor Muruks Tempel gelegen hatte. Der Tempel existierte nicht mehr, Ilana
und Tojar hatten ihn einreißen lassen, den Opferkreis hatten sie jedoch als mahnendes Beispiel erhalten, der die Engilianer
daran erinnern sollte, dass Frieden und Wohlstand keine Selbstverständlichkeit waren. Ilana selber hatte sich noch von ihrer
Schwester |276| trennen müssen und zusehen, wie sie nach Dungun ging. Viel mehr hatte sie jedoch nicht erzählt. Über den Verbleib ihrer Schwester
schwieg sie sich beharrlich aus, ebenso wie über den Grund, weshalb es Muruk nun nicht mehr zu geben schien. Seine Mutter
wollte ihn zu einem guten König erziehen, und als er jünger gewesen war, hatte sie ihn tatsächlich mit ihren Geschichten verschrecken
können. Geschichten von Greifen, die Frauen stahlen, Überlieferungen von Schjacks, bösen Kreaturen, die Menschen zerrissen.
Sie hatte Degan sogar derart zu verängstigen vermocht, dass er oftmals davon geträumt hatte, eines jener geflügelten Wesen
würde in seiner Fensteröffnung sitzen und ihn beobachten, während er schlief. Doch als er älter geworden war, hatten die Träume
aufgehört, und Degan hatte damit begonnen, die Geschichten Ilanas als Unfug abzutun, mit denen man Kinder erschreckte, damit
sie gehorsam waren.
»Degan, hörst du mir zu?«, unterbrach Tojar seine Gedankengänge.
»Natürlich«, erwiderte Degan schnell und sah ihn an.
»Du bist nun zwanzig Sommer alt und ein Mann. Es wird Zeit, dass du Verantwortung übernimmst.« Tojar wartete auf eine Antwort,
doch Degan sah ihn nur fragend an. Sollte er in den Tempel von Sala gehen und dort ein paar Monde verbringen, um seinen Geist
reinigen zu lassen?
»Wir wollten eigentlich noch einen Sommer warten, doch deine Mutter und ich haben uns entschlossen, dass du und Lin euch einander
versprechen sollt. Wir werden eure Verbindung heute Abend auf dem Fest verkünden.«
Degan war wie vor den Kopf geschlagen. Bisher war seine Zukunft als König von Engil an der Seite Lins nur ein vager, weit
entfernter Gedanke gewesen. Er mochte Lin; wenn er einst eine Gefährtin wählte, weshalb nicht sie. Sie waren gemeinsam aufgewachsen
und kannten sich gut. Lin war hübsch und klug, doch die Aussicht auf eine baldige Verbindung erschreckte ihn.
|277| »Ich würde gerne noch einen Sommer warten«, sagte Degan, ohne lange nachzudenken.
»Es ist bereits beschlossen.« Ilana legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass du nicht in Liebe zu Lin entflammt
bist, doch gib den Gefühlen etwas Zeit. Auch dein Vater und ich haben Zeit gebraucht, uns zu lieben.«
Degan bemerkte, wie liebevoll sich seine Eltern ansahen. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, mit Lin so innig verbunden
zu sein; die Wahrheit war, dass er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, mit einer Frau so innig verbunden zu sein. Er war
zu wild, zu zornig … zu anders als Tojar und Ilana oder seine Freunde. Er begehrte die Frauen, doch er liebte keine von ihnen.
Trotzdem wusste er mit einem Blick in die Augen seiner Eltern, dass er nichts gegen diese Entscheidung ausrichten konnte.
Deshalb nickte er schließlich. »Wenn ihr es wünscht, werde ich gehorchen.«
Die Augen seines Vaters wurden etwas milder, die Strenge fiel von ihm ab. Anscheinend hatte er mit einer stärkeren Gegenwehr
seines Sohnes gerechnet. »Wir werden es Lin nachher sagen. Sie wird sich sehr darüber freuen.«
»Darf ich nun gehen und mich für das Fest umziehen?«, fragte Degan gepresst, denn er fürchtete, seine Eltern könnten den Unmut
in seinen Augen erkennen. Was konnten sie dafür, dass er anders war, und was konnte Lin dafür? Er würde sich
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